Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 21. Juni 2004, Heft 13

Gras drüber, die Letzte

von Reinhard Stöckel

Hier, so hatte es auf dem Schild gestanden, entsteht eine Wiese. Jetzt ist sie da, die Wiese. Im niederlausitzer Sommerwind wiegen sich leicht gebräunte Gräser und duftende Kräuter. Beifußpollen und andere allergene Blütenstäube schweben durch die Luft, sedimentieren auf einem neuen Schild: Hier stand ein Haus des sozialistischen Wohnungsbauprogramms.
Was nicht auf dem Schild steht: Unter dieser Wiese liegt Karst. Henri Karst, ein ehemaliger Mensch. Jetzt Staub vom Staube, Menschenstaub.
Allergologisch unbedenklich.
War unter die Abrißbirne geraten und in die mobile Steinbrechanlage, also Staub zu Staub. Da liegt er nun, von Würmchen durchzogen, maulwurfdurchschaufelt, bakterienzersetzt. Einzig, weil er sich weigerte, seine Wohnung, Typ P2 – Nichts gegen P2, man war doch froh … – seine Wohnung also zu verlassen. Er, der letzte Mieter wollte nicht ausziehen. Wollte nicht? Konnte nicht!
Wir haben bisher herausgefunden: Karsts Nachbar verzog (sich) nach Nürnberg. Er schenkte Karst (ohne Wissen seiner Frau) zum Abschied eine schmiedeeiserne Stehlampe (Konsumgüterproduktion) und trank mit ihm seine letzten Biere (Radeberger).
Später, so gestand Karsts ehemaliger und bester Schüler, versetzte dieser Karsts Bier mit einer synthetischen Droge, angeblich, um ihn aufzumuntern.
Zu den letzten, die Karst lebend sahen, gehörte seine Frau (in Scheidung). Nach deren Aussage habe die Nachbarin (rosa Strähnchen) vergeblich versucht, ihre Stehlampe gegen eine Flasche Schnaps (Nordhäuser Doppelkorn) zurück zu tauschen. Die Nachbarin überließ den Schnaps Karsts Frau, welcher gelang, sich dafür eine Tasche mit ihren Sachen herausgeben zu lassen.
Wir recherchierten weiter. Ein weiterer ehemaliger Schüler war leider nicht zu sprechen. Er sitzt in U-Haft. Wir zitieren daher aus einem Vernehmungsprotokoll der Kriminalpolizei:
Der Sack hat mir die Zukunft versaut. Eins ist klar: Er hätte die Sache vergessen können. Hätte er gewollt.
Also wir alle hinter der Turnhalle. Der Karst kommt angelatscht, die andern spritzen weg und ich steh da wie blöd, die Wasserpfeife in der Hand. Dabei war das gar nicht meine, habe ich gefunden, echt. Kiffen? Eins ist klar: Würde ich nie machen, nicht mit und nicht ohne Pfeife.
Der Karst, gerade der, wie ich den das letzte mal sah, war der selber voll zugedröhnt.
Eins ist klar: Der hatte doch nur einen Vorwand gesucht. Dabei ist ganz klar, so was mache ich nicht. Ich bin national. Und da nimmt man nicht so Amishit. Gibt doch Bier, deutsches Bier, rein und sauber. Deutsch eben. Nein, nicht was Sie denken … mit Nazis und so, da will ich nichts zu tun haben, die sind mir zu radikal, zu sehr festgelegt aufs Dritte Reich und so. Ich bin eher, na sagen wir: unbefangen. Ja, ich bin national, aber eher so neu, so berlinerrepublikmäßig, unbefangen eben.
Mag ja sein, Hitler und so und WK II und so war nicht so die Sahne, aber müssen wir doch jetzt nicht mehr drüber reden. Heute doch nicht mehr, Herr Karst, hab ich gesagt.
Aber eins ist klar: Wir müssen wieder mitmischen in der Welt, nicht bloß beim Fußball. Ich sage nur: Globalisierung! Tja, genau, das ist es.
Wenn wir nicht aufpassen, schnappt uns der Ami alles weg und der Brite und der Franzose und der Russe! Und wir? Wir Deutschen?
Uns bleiben die Ausländer, die kommen dann alle hier her, wenn der Ami da unten seine Bomben schmeißt. Herr Karst, habe ich gesagt, das geht doch nicht, da haben wir doch gar keinen Raum, keine Räumlichkeiten für, und keine Arbeit sowieso.
Wenn hier erst Wüste ist … Wegen den Aussis ihrem Ozonloch oder den Abgasen von die amerikanischen Viehherden. Also Wüste. Und dann noch Neger?! Das ist doch klar, daß das nicht geht. Die Schwarzen sind das ja gewohnt, die Hitze und die Trockenheit und so, da geraten wir als Deutsche doch vollkommen ins Hintertreffen.
Na, dachte ich, jetzt soll der Karst mal sehen, wie das ist: Ohne Arbeit. Ärztlich ausgemustert hatten sie den. Nein, da hatte ich ihn mir noch nicht vorgenommen, nein, da noch nicht. Ich meine, so Lehrer, ich glaube, die werden sowieso nicht so alt.
Aber daß ich wegen dem, kurz vor seinem Abgang, auch noch von der Schule mußte, das vergesse ich dem nie. Nie, auch wenn er jetzt tot ist. Ohne Abschluß ist Mist. Soll ich nun mein Lebtag von der Stütze leben, soll ich das? Haben Sie das gewollt, Herr Karst?! Ja, Sie haben das gewollt, ein Nationaler kann ruhig vor die Hunde gehen, das ist doch ihre Meinung!
Wollte der mich doch, so voll wie der war, rausschmeißen aus seiner Bude. Nein, mich schmeißt man nicht raus, nicht, solange ich nicht gesagt habe, was ich zu sagen habe, und ich hatte viel zu sagen.
Daß er dann mit dem Kopf gegen den Fuß der Stehlampe knallt, kann ich doch nichts für. Das ist doch wohl klar. Außerdem hat er da noch gelebt. Ganz klar: Der hat noch gelebt.
Ich bin sogar noch mal hin! Guckst mal nach, ob sich der Herr Karst auch nichts getan hat, nichts Ernstes. Ich wollte nicht auch noch inín Kahn wegen dem. Es war ja sonst keiner mehr drin in dem Haus. Stand schon so ein Schild davor: Hier entsteht eine Wiese. Und als ich ankomme, steht da ein Auto vorm Haus. Und so eine Tussi mit rosa Fusseln im Haar kommt gerade aus der Tür mit dem Karst seine Stehlampe in der Hand. Dachte ich: Ist also alles in Ordnung. Wird der Karst wohl auch weg sein. Mußte ich doch denken, oder?
Und paar Tage später komme ich zufällig da vorbei und staune und gucke und sehe, da ist jetzt überall Gras drüber. Wer konnte ahnen, daß der Herr Karst da drunter liegt. Und alles wegen ʻner Stehlampe.

Ende