Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Juni 2004, Heft 12

Gras drüber, die Dritte

von Reinhard Stöckel

Hier, so hatte es auf dem Schild gestanden, entsteht eine Wiese. Jetzt ist sie da, die Wiese. Im niederlausitzer Sommerwind wiegen sich leicht gebräunte Gräser und duftende Kräuter. Beifußpollen und andere allergene Blütenstäube schweben durch die Luft, sedimentieren auf einem neuen Schild: Hier stand ein Haus des sozialistischen Wohnungsbauprogramms. Was nicht auf dem Schild steht: Unter dieser Wiese liegt Karst. Henri Karst, ein ehemaliger Mensch. Jetzt Staub vom Staube, Menschenstaub. Allergologisch unbedenklich. War unter die Abrißbirne geraten und in die mobile Steinbrechanlage, also Staub zu Staub. Da liegt er nun, von Würmchen durchzogen, maulwurfdurchschaufelt, bakterienzersetzt. Einzig, weil er sich weigerte, seine Wohnung, Typ P2 – nichts gegen P2, man war doch froh … – seine Wohnung also zu verlassen. Er, der letzte Mieter, wollte nicht ausziehen. Wollte nicht? Konnte nicht!
Wir haben bisher herausgefunden: Karsts Nachbar verzog (sich) nach Nürnberg. Er schenkte Karst (ohne Wissen seiner Frau) zum Abschied eine schmiedeeiserne Stehlampe (Konsumgüterproduktion) und trank mit ihm seine letzten Biere (Radeberger). Später, so gestand Karsts ehemaliger und bester Schüler, versetzte dieser Karsts Bier mit einer synthetischen Droge, angeblich, um ihn aufzumuntern. Wir recherchierten weiter und trafen Karsts ehemalige Frau zwischen Damenfriseur und letztem Sommerschlußverkauf, wo sie unserem Reporter sagte:
Ich glaube mal, ja ich bin sicher, er hatte so eine Phobie, eine Wessiphobie. Zum Beispiel, nur mal zum Beispiel genommen. Der Jürgen, der Jürgen kommt aus Frankfurt, aus Frankfurt am Main. Ein ganz netter Mensch, ganz attraktiv, irgendwie immer ein Lächeln auf den Lippen.
Aber der Henri, der Henri hat den Jürgen am Schluß gar nicht mehr reingelassen. Also der Henri, der hatte ja seine Gefühle überhaupt nicht im Griff. Kein Wunder, daß sie ihn – also seine Bewerbungen kamen ja noch gut an, aber wenn er dann zum Vorstellungsgespräch kam. Da braucht es doch ein gewisses Auftreten. Ich mein ja nur mal so. So wie Jürgen eben. Die Gisela, also die wo unsere Nachbarin war, meinte: Der ist bestimmt eifersüchtig, der Henri. Also eifersüchtig, heutzutage! Ja, leben wir denn der Steinzeit?!
Ich will Ihnen mal was sagen, wenn überhaupt eifersüchtig, dann war der Henri eifersüchtig auf dem Jürgen seinen BMW. Wissen sie, was der gesagt hat: Penisprothese, das sei eine Penisprothese. Solche Ausdrücke! Das ist doch Sozialneid, so was. Als ob der Jürgen so was notwendig hätte, hat der gar nicht, nicht in seiner Position – System Account Manager. Das ist so … so ein … Account Manager fürs System eben.
Nächste Woche hat er ja Urlaub, dann geht’s los nach … nach … Ach, wohin, weiß ich jetzt auch nicht. Aber der Jürgen, kriegt da was günstig. Auf jeden Fall mit dem Flieger. Der Henri, der sagte immer noch Flugzeug, ich meine, das sieht man ja schon an der Wortwahl von einem, wie der ist. Ob der konservativ ist oder offen für Neues, so wie ich und der Jürgen. Und der Henri, ich glaub schon, der war ein Stück weit konservativ, ja ein ganzes Stück und sehr weit ist der das. Gewesen, muß man ja nun sagen. Dabei hatte uns der Jürgen ein wirklich günstiges Angebot gemacht, hat sich wund gerechnet für uns, nur damit wir aus diesem Loch rauskommen. Aber der Henri, mit seiner Phobie. Statt daß er mal zum Psychologen geht. Ich meine mal bloß. Heute kann man doch viel machen, da muß doch keiner immer so depressiv sein, da gibt es doch Mittel gegen. Aber der Henri hat ja nicht auf mich gehört, hat sich gehenlassen. Wie das aussah! Er hat mich ja auch gar nicht mehr reingelassen. Die Gisela auch nicht. Obwohl ich fast sicher war, die beiden hätten was. Na, die mit ihren rosa Strähnchen. Jedenfalls hat er sie auch vor seiner Tür stehen lassen. Obwohl sie eine Flasche Nordhäuser dabei hatte. Sie wollte ihre Stehlampe zurücktauschen. Machte er aber nicht, das sei ein Geschenk von seinem Freund. Gisela hatte es eilig, der Möbelwagen war schon weg und unten hupte ihr Mann. Vielleicht hätte ich mehr Erfolg, sagte sie. Hatte ich auch, für den Klaren hat er mir die Tasche mit meinen restlichen Sachen rausgeschoben.
Er könne mich da jetzt nicht reinlassen, es würde etwas riechen, er hätte in die Hunde … Na ja, um Ausreden war der nie verlegen.
Geh doch mal zum Friseur, habe ich zu ihm gesagt.
Wissen Sie, was er geantwortet hat: Soll ich meine Haare dem Kapitalismus in den Rachen werfen. Keinen Cent für das System! Er ginge sowieso nirgends mehr hin.
Der Jürgen, der hatte ja noch Mitleid mit ihm, der wollte ihm sogar seinen Wagen leihen, damit er nach Dresden fahren kann, sich vorstellen. Nein, fährt der prompt mit der Bahn und kommt natürlich zu spät. Und dann behauptet er, sie hätten ihm aus so einer alten Sache einen Strick gedreht. Immer nur Ausreden! Also, ich hatte ja dann die Nase voll. Nur der Jürgen sagte immer: Wir können ihn doch nicht im Stich lassen, wir müssen solidarisch sein.
Hat ihm sogar eine Einraumwohnung beschafft, in Top-Lage, City, gleich neben dem neuen Einkaufszentrum, Riesenparkplatz gegenüber. Was will man mehr? Aber der Henri, bis zum Schluß blieb der stur, wollte nicht raus aus der Wohnung. Ein richtiger Betonkopf, hat der Jürgen gemeint, aber gesagt, nein gesagt, ihm gegenüber hätte der Jürgen so was nie.
Der Jürgen ist so ein ganz einfühlsamer, SPD und so. Außerdem voll emanzipiert. Also, ich sage ihnen, auch wenn’s jetzt vielleicht ein bißchen intim wird, als ich das erste Mal in dem Jürgen seine Jungesellenbude … Aber was sage ich, Bude? Ein Appartement, eine Single-Suite ist das. Wie ich also komme und auf die Toilette gehe und die Klappe hoch hebe, da hat er doch da einen Aufkleber zu kleben: Bitte nicht im Stehen pinkeln! Ist das nicht süß?!

Schluß folgt