von Jens Knorr
Elling ist gern zu Haus, wenn auch nicht gern allein, sondern mit Mutter. Und Mutter ist gern bei Elling. Sie haben ihren eingespielten Tagesrhythmus, ihre gemeinsamen Mahlzeiten, ihr Glas mit den Goldfischen, die Elling entschieden zu oft zärtlich in seine Hände nimmt, und das Puzzlespiel mit der Vorlage auf dem Deckel, ohne die blaues Meer und blauer Himmel unmöglich gelegt werden können. Doch ewig kann nicht währen, was Mutter dem kleinen Elling einstens versprochen hatte: lebenslanger Schutz vor den Zumutungen des Lebens, deren fürchterlichsten eine die fürchterlichen Leute von Drammen sind.
Und nicht nur die Leute von Drammen! Elling lernt ungern neue Leute kennen, sintemal er dazu die kleine Wohnung im Zentrum von Oslo verlassen muß. Wenn nun aber doch Gänge gegangen werden müssen, die sich nicht aufschieben lassen, dann nur mit Mutter, wenigstens bis vor die Tür ihres Arztes.
Doch dann will Mutter auf einmal, daß Elling unter Leute kommt, selbständig wird und ñ Ferien macht, mit Mutter natürlich, auf Mallorca. »Hier machen alle Ferien. Und was bedeutet das? Nichts weiter als wüste Sauforgien in Hotelzimmern und hemmungslosester Sex in gigantischen Doppelbetten!« Einerseits hat sich die sinnliche Ausstrahlung der Frauen auf Mallorca bis ins kühle Oslo herumgesprochen, und außerdem hat Mutter den starken Mann von nunmehr vierzig Jahren an ihrer Seite wohl auch nötig. Andererseits hat das Leben vor dem Vergnügen unüberwindbare Probleme aufgetürmt, als da sind Paßkontrolle, Check-In, die Zudringlichkeiten des pensionierten Obersten Bugge-Hørvik – nicht gegen Elling, aber gegen Mutter und damit gegen Elling, auch wenn Mutter und Bugge-Hørvik das ganz anders sehen -, vor allem aber die unstillbare Wunde, die Elling sich beim morgendlichen Rasieren zufügte und die nie sich schließen will, sowie die Flugangst. Im Zentrum der Flugangst gibt es eine Leere, eine Art Auge des Hurrikans, in dem man eine fatalistische Bewußtlosigkeit erreicht, und nur die erlaubt es einem, zu fliegen, ohne zu sterben. Elling schreit und schreit, als das Flugzeug den Boden unter den Rädern verliert.
Er ist also wieder da, der scheue Titelheld des Films, der vor zwei Jahren zu einem Publikumserfolg wurde. Doch ist das dieses Mal ein ganz anderer Elling in einem ganz anderen Film, dessen Handlung zeitlich vor der des ersten Films abläuft: Um den einen zu verstehen, muß man den anderen nicht kennen. Handlung und Held sollen dem Vernehmen nach näher an der literarischen Figur Ingvar Ambjørnsens sein, nach dessen Roman Ententanz Axel Hellstehius das Drehbuch zu dem Film Elling – Nicht ohne meine Mutter (Mors Elling) geschrieben hat. Dem Genre Literaturverfilmung allerdings ist Eva Isaksen, die nun Regie führt, nicht nur einmal in die Falle gegangen. Zu viel von dem, was erspielt oder vielmehr in filmischen Bildern aufgehen müßte, bleibt der Erzählerstimme aus dem Off übertragen. Und die Musik von Lars Lillo-Stenberg sorgt lediglich für harmlose Untermalung und gefällige szenische Übergänge.
Ihre eigentlichen Qualitäten als Regisseurin beweist Eva Isaksen in der Führung ihrer Schauspieler. Sie hat Per Christian Ellefsen als Elling, aber auch Grete Nordrå als Ellings Mutter, Helge Reiss als Oberst Bugge-Høvik und all den anderen glücklich verwehrt, sich die Sympathien ihrer Zuschauer billig zu erschleichen. Entweder wir empfinden Sympathie für den unsympathischen Elling, oder wir lassen es eben bleiben. Per Christian Ellefsen fordert für Elling selbstverständliche Akzeptanz ein, ohne daß der irgendein Äquivalent in Zahlung zu geben hätte. Er setzt den Menschen Elling einfach als Menschen, ohne daß der seinen Wert durch irgendwelche besonderen Fähigkeiten erst unter Beweis stellen müßte, wie etwa ein Hollywood-Autist den seinen durch stupende Gedächtnisäquilibristik. Das macht Elling anders, das macht Elling ñ sympathisch.
Das Mallorca der Pauschaltouristen ist so übel, wie Elling es sich immer vorgestellt hat, eine Insel voller Spanier, Bettenburgen, deren Balkons auf verdreckte Hinterhöfe hinausgehen, ein einziger Schlüssel für ein Doppelzimmer und ein Doppelbett statt zweier Einzelbetten. Wie sollen da Himmel und Meer sinnvoll zusammenkommen, wenn Karton samt Deckel aus Platzgründen daheim bleiben mußten?
Die Frauen auf Mallorca und der Weg zu ihnen aber sind so übel nicht. Wider Erwarten gibt es nicht nur Huren, sondern auch eine Stewardeß mit blutstillendem Stift, eine Reiseleiterin mit zweitem Zimmerschlüssel, eine tröstende und trostsuchende Zimmernachbarin mit permanent sturzbetrunkenem Gatten, beides Norweger, und es gibt all diese Frauenkörper am Strand mit irritierenden, wenngleich nicht unangenehmen Ausbuchtungen. Vor denen oder vielmehr vor schwellender Ausbuchtung am eigenen Körper bleibt nur die Flucht ins Wasser, dahin zurück, woher der kleine Elling wie alle Menschen einst gekommen war.
Ellings Lösung von seiner Mutter inszeniert Eva Isaksen aber auch als Lösung der Mutter von ihrem Sohn, denn wie es an ihm ist, seinen Platz an ihrer Seite Stück um Stück aufzugeben, so ist es an ihr, Stück um Stück von Elling zu lassen, um Platz für den andern, Bugge-Høvik zu gewinnen. So geschieht ein kleines Lehrstück mit viel versteckter
Situationskomik und einigen filmischen Bildern, die unaufdringlich gesetzt werden, über das Verhältnis von Vormund und Mündel, von Bevormundung und Liebe, vor allem aber über die Zärtlichkeit zwischen Mutter und Sohn, ein Lehrstück, das irgendwo zwischen Ingmar Bergman und Loriot seinen Platz behauptet und dabei zu beiden freundlichen Abstand hält.
Mit der Lebensangst verhält es sich wie mit der Flugangst. Elling schreit auf dem Rückflug nicht, der Nebenplatz bleibt unbesetzt. Dann ist Elling allein zu Haus, frei von Mutter, angekommen im unfreien Leben, seinem eigenen, ein verstörter, kein zerstörter Mann.
Das Leben ist beschissen, trocknet aber an der Luft.
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