Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 10. Mai 2004, Heft 10

Von einem, der auszog, die Zeit einzufangen

von Peter Braune

Mein Freund Michael hat ein Problem: Er hat niemals Zeit. Seit zehn Jahren treffen wir uns, wenn ich ihn sehen möchte, auf einen Sprung in einem Steh-Café gleich unter der S-Bahn. »Für mich zwei Töppe Kaffee, ohne alles«, ruft er dem Mädchen hinter dem Ausschank zu, als er mit einer halben Stunde Verspätung zu unserer Verabredung kommt. »Ja, zwei Töppe auf einmal!« setzt er hinzu, weil er weiß, daß sie seine Bestellung mit offensichtlichem Mißtrauen entgegennimmt. »So sind sie alle, alle«, mault er, wirft seine graue Wollmütze, ein unförmiges Fahrradschloß und sein Handy mitten auf den Tisch, kramt ein abgewetztes schwarzes Addreßbuch aus seiner Brusttasche hervor, es folgen ein Tabakpäckchen, zwei oder drei Feuerzeuge, Zigarettenpapier und ein Bleistiftstummel. »Die sollen mal ihren Job ernst nehmen, wenn jemand etwas bestellt! Du, entschuldige, einen Anruf muß ich noch machen, dann bin ich zu allem bereit.« Ich staune immer wieder, wie er mit einer Hand eine Zigarette dreht, mit der anderen aus dem Büchlein eine Telefonnummer heraussucht, sie in den Apparat eingibt und gleichzeitig seine Zigarette anzündet. »Du, Anna Kathrin, ich werde mich wohl etwas verspäten. Ja, verspäten, du siehst ja, das Wetter draußen. Verspäten heißt verspäten. Ich sage mal vielleicht zwanzig Minuten, wobei das relativ zu betrachten ist.« Michael spricht leise, einschmeichelnd und ich merke, daß er seine ganze Überzeugungskraft in seine Stimme legt. »Bestimmt weniger als eine halbe Stunde, wenn nichts dazwischen kommt. Und das sage ich, weil es immerhin doch möglich sein kann, daß ich aufgehalten werde.« Michael spricht, trinkt und raucht, holt sich vom Nachbartisch einen Aschenbecher und gibt mir Zeichen, nicht ungeduldig zu werden. Ich gehe erst einmal aufs Klo. Diese Gespräche mit seinen Freundinnen Anna Kathrin, Sabine oder Marion kenne ich seit zehn Jahren.
Als ich zurückkomme, steht Michael am Fenster, das Handy am Ohr, seinen Kaffee in der Hand. »Laß uns nicht um das Vergängliche streiten Anna Kathrin! Habe ich etwa die Uhr erfunden? Was sind schon Sekunden, Minuten oder Stunden. Sieh doch mal auf das Große und Ganze, sieh auf dein ganzes Leben! Dann schrumpft diese kleine Verspätung zu einem Nichts zusammen? Ein jegliches hat seine Zeit. Stammt das aus der Bibel? Du bist dann schon gegangen?« Ich sehe mir meinen Freund an, wie er dort vor der verregneten Scheibe mit seiner Freundin um das gemeinsame Leben ringt.
Daß er sich seit langem jeden Tag nur das halbe Gesicht rasiert, kenne ich schon an ihm. »Das spart Zeit«, sagt er dazu. Neu an ihm ist heute, daß sein rechter Fuß in einer offenen Sandale steckt, der linke aber in einem alten halbhohen Stiefel. Seine Hose ist ihm tief unter den Bauch gerutscht, weil es ihm bestimmt zu lange dauerte, einen Gürtel durch die Schlaufen zu ziehen. Der Schlitz ist unverschlossen. Michael lehnt sich mit dem Rücken an die Scheibe. »Gleich«, raunt er mir zu und dann wieder in sein Handy. »Ich sagte ›gleich‹, Annakatze, nein, nicht zu dir, sondern zu Frank. Ja, der ist auch hier. Was heißt hier Zeitverschwendung? Das ist doch der Grund meiner Verspätung.« Er reckt sich auf, hebt den Arm und preßt das Handy fest an sein Ohr. Sein Hemdkragen ragt ihm aus der Jacke hervor, da falsch geknöpft, rutscht er weit bis über seinen Haaransatz hinaus.
Jetzt wirbt er nicht weiter um Verständnis. »Anna Kathrin«, brüllt er in sein Handy, »Anna Kathrin, dazu fehlt mir einfach die Zeit!« Ich höre, wie sein Telefon zuklappt. Michael steht neben mir am Tisch. »Noch einmal zwei Töppe Kaffee für mich!«, ruft er. »Da bin ich, mein Guter.« Ich lege meine Hand auf seine Schulter und sehe ihm ins Gesicht. Von den Haarstoppeln links einmal abgesehen, ist es grau und faltig. Dunkle Ringe unter den Augen, aufgesprungene trockene Lippen. Michael tut mir leid.
»Du siehst aus«, sage ich, »wie ein alter Geißbock ohne Hörner.« Michael senkt die Augen, sieht, daß ihm ein Zipfel seines Hemdes aus dem Hosenschlitz herausragt, schließt den Verschluß und zieht sich die Hose hoch. Ich ziehe ihn an einen Tisch in der Ecke und drücke ihn in einen Plastiksessel, hole seine Mütze und das übrige Zeug vom Stehtisch. Die Bedienung bringt den Kaffee. Wortlos greife ich mir sein Telefon und stecke es in die Kaffeetasse. Die heiße Brühe spritzt über meine Hand und bildet eine Pfütze auf dem Tisch, in der Michaels Krempel badet. »Das war’s für heute.« Ich stehe auf, zahle und verlasse das Café.
Gestern traf ich Anna Kathrin. Sie stellte sich vorwurfsvoll vor mir auf. »Du, was hast Du neulich mit Michael gemacht? Erst ging er zum Friseur, hat sich die Haare schwarz färben lassen, jetzt kämmt er sie täglich. Tags darauf kam er vom Einkaufen wieder, diesmal im schwarzen Anzug, weißen Hemd, Krawatte und mit glänzenden spitzen Schuhen, Mantel und weißem Kaschmirschal. Roch meilenweit nach Veilchen. Er hat mich gar nicht angesehen, ist sofort an den Kleiderschrank gegangen und hat alle seine Klamotten – Schuhe, Wäsche, alles – runter zum Müll gebracht. Tags kaufte er sich Notebook. Jetzt sitzt er mal im blauen Anzug, mal im Anzug mit Nadelstreifen und Weste vor seinem Notebook, tippt dauernd Termine ein, ruft sie wieder auf, streicht sie und gibt wieder neue ein. Nennst Du das etwa einen Freundschaftsdienst?« Sie sah verzweifelt aus.
Ich hütete mich, ihr einen Rat zu geben, sondern verabschiedete mich unter dem Vorwand, ich hätte eine wichtige Verabredung einzuhalten.