Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 24. Mai 2004, Heft 11

Rund um den Potsdamer Platz

von Walter-Thomas Heyn

Nun ist Europa größer geworden und beginnt sich zur Kenntlichkeit zu verändern. 59 Jahre sind seit dem Kriegsende vergangen – auch dieses lästige Thema kreist und nagt, und das Wetter war schlecht. Wir schmähten den Kleingarten und absolvierten ein Kulturwochenende rund um den Potsdamer Platz. Denn irgendwie hängt alles zusammen: die zahlreichen grausamen Kriege, die auch dieser Platz erlebte. Die Gründerzeit, die blutige Brigade Ehrhardt, der größte Führer aller Zeiten, die Kaninchen des Mauer-Biotops, die erstaunlichen Dimensionen der schönen bunten Neubauten und die daran gemessenen bescheidenden Hoffnungen auf die eigene sinnerfüllte Zukunft.
Gleich um die Ecke in der Lukas-Kirche am Anhalter Bahnhof treten am 7. Mai die Liederwerkstatt Kreuzberg und der Arbeiter- und Veteranenchor Neukölln in einem gemeinsamen Konzert auf. … zu enden Deutschlands Nacht … heißt das sorgfältig ausgewählte und poetische Programm, bei dem die Nicht-Anwendung des Holzhammers angenehm auffällt. Lieder und Texte in deutscher, jiddischer, griechischer und russischer Sprache von Robert Schumann, Jewgeni Jewtushenko, Mikis Theodorakis, Stefan Kahlbow, Hanns Eisler und Hirsch Glik erklingen. Das Wunder aber vollbringen die Veteranen an sich selbst: Die müden, vom Leben gebeugten Rücken straffen sich, die Stimmen strahlen, die Augen beginnen zu leuchten – oh Wunder der Musik.
Einen Tag später läuft im Teatr Studio am Salzufer das Stück Die weiße Ehe von Tadeusz Róz˙ewicz. Das im Jahre 1973 entstandene Stück hatte erhebliche internationale Resonanz. Hier wird es mit ungeheurem Engagement von ganz jungen Leuten an einem außergewöhnlichen Ort gespielt. Ein Bühnenbild von verspielter Schäbigkeit (André Putzmann), eine exzellente Schauspielmusik (Michal Talma Sutt) sowie das perfekte Ensemble-Spiel runden den Abend.
Polnisches Theater war immer schon Weltklasse und wird es wohl auch bleiben. Es ist auch kein Zufall, daß das Teatr Studio am Salzufer in Zusammenarbeit mit der deutsch-polnische Studiobühne mit diesem Stück in Berlin herauskommt. Es ist ein Drei-Generationen-Stück über heikle Fragen erwachender Sexualität, über das Mit- und Gegeneinander der Generationen, über Gott, die Welt und das Älterwerden. Der verdienstvollen Arbeit dieses Theaters und der angeschlossenen Schauspielschule TRANSFORM unter der Leitung von Janina Szarek werde ich mich später zuwenden. Hier nur die mit einer Extra-Empfehlung versehene Information, daß das Stück bis Mitte Juni jeden Sonnabend und Sonntag um 19 Uhr am Salzufer Nr. 13 (Aufgang H) gespielt wird. Kartentelefon: 030 324 23 41.
Der Nestor der Berliner Nachkriegs-Komponisten, Kurt Schwaen begeht in wenigen Wochen seinen 95. Geburtstag. Neben Werken von Eisler, Dessau und Cilensek und Kochan war Schwaen einer derjenigen, die die Nachkriegszeit wesentlich und bis in die Gegenwart hinein prägten.
Die Idee zu einem musikalisch-literarischen Werk Der Potsdamer Platz stammte von Kurt Lutz, dem ehemaligen Direktor des Meistersaales. Der Komponist Kurt Schwaen entschloß sich, die literarische Vorlage von Helmut Baierl (siehe Seite 18) für ein Ensemble von je zwei Frauen- und Männerstimmen, einem Sprecher und drei Instrumentalisten (Klavier, Klarinette, Schlagzeug) umzusetzen. Die historischen Teile von Schwaens Komposition tragen musikalisch einen angemessenen lyrisch-kantatenhaften Charakter. Je näher dem 20. Jahrhundert, um so mehr überwiegt der Songstil. Die Vokalnummern wurden durch kurze Instrumentalsätze ergänzt.
Die zweite Aufführung der Neufassung fand am 9. Mai im Haus Ungarn statt, einem aktiven Kulturzentrum, das immer schon viel für das Musikleben Berlins getan hat und hoffentlich weiter tun wird. Den Solisten Barbara Kellerbauer, Jana Reh, Volker Herden, Stefan Labenz und Jörg-Peter Malke (Sprecher) gelang ein Bilderbogen von herber Süße, Christine Reumschüssel und Natascha Osterkorn (Klavier), sowie Instrumentalsolisten der Komischen Oper bewältigten die Melange aus ganz verschiedenen Zeitstilen souverän.
Soweit unsere Kulturerlebnisse rund um den 8. Mai und den Potsdamer Platz. Ein Veteranenchor und eine zwanzig Jahre alte (west-) Berliner Liedergruppe hielten ein kleines Fähnchen der Aufmerksamkeit für die längst an den Rand gedrängte Befreiung vom Faschismus hoch. Ein neugegründetes Theater für polnische Autoren und Stücke erringt respektvolle Aufmerksamkeit. Eine Komposition wird fast ohne Geld und ohne öffentliche Aufmerksamkeit im Kulturzentrum eines früher befreundeten und jetzt dazugehörenden Landes realisiert. Europa ist unterwegs in die Zukunft, es wird größer und die neuen Staaten werden sich natürlich über ihre Kultur, über ihre Kunst und Künstler präsentieren und profilieren. Und alle wollen nach Berlin, in die historische Mitte rund um den Potsdamer Platz, der wieder und immer stärker die Drehscheibe für Ost-West-Süd-Nord werden wird, und der wieder zu kreiseln beginnt, wie in den schwindelerregenden goldenen Zwanzigern, nach denen der Katzenjammer kaum größer sein konnte. Aber: Hertha hat gewonnen. Und das Wetter bessert sich vermutlich von alleine.