Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 24. Mai 2004, Heft 11

Inkontinente Parasiten

von Jörn Schütrumpf

Der Ton gegenüber der Aufbaugeneration wird rauher: Sie verbrauche, was eigentlich den jungen Leistungsträgern zustehe, und zerstöre so die lichte Zukunft des neoliberalen Heldenlebens. Während die akademische Jugend mit rettungslos überfüllten Hörsälen in Arbeitsunfähigkeit und Depressionen getrieben werde, verbrauchten die Alten – die einen kraftstrotzend, strahlend und gepflegt auf den Golfplätzen der Welt; die anderen hilflos, sabbernd und inkontinent in der Deutschen Krankenhausbetten – die Existenzgrundlagen der nächsten Generationen.
Immer deutlicher wird: Vornehmste Aufgabe neoliberaler Politik ist es, die Gesellschaft mit der Droge des freien Wettbewerbs so zu vergiften, daß jeglicher Gedanke an Solidarität nichts anderes mehr auszulösen vermag als Zynismus und »gesunde Aggressivität«. Neoliberalismus hat sich längst als unverfälschter Sozialdarwinismus entpuppt; nur das NS-belastete Etikett wurde ersetzt. Die Gesellschaft wird für einen täglichen Bürgerkrieg um das Privileg, den nächsten Tag erleben zu dürfen, reifgemacht. Nach den Asylsuchenden, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern sind jetzt die Alten an der Reihe. Regierung und Opposition suchen permanent, sich im Niedertreten der Schwächsten zu übertrumpfen.
Alle medial wahrnehmbaren Parteien, im Moment sind das zumeist vier, haben die Zeichen der Zeit verstanden: Der Sozialstaat – so wie er während des Kalten Krieges eingerichtet worden war – diente keineswegs (wie lange geglaubt) einer klassenindifferenten Pazifizierung der Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit; seine vorrangige Aufgabe war der Schutz der Plusmacher(ei) vor den Enteignungsphantasien einer marxistisch inspirierten Arbeiterbewegung. Da unterdessen die Massenproduktion ohne massenhaft eingesetzte Produzenten betrieben werden kann, schmilzt die soziale Basis der Arbeiterbewegung und beraubt sie so ihres entscheidenden Drohpotentials. Nicht einmal theoretisch ist sie mehr gefährlich. Der »Klassenkampf von oben« ist deshalb wieder führbar geworden.
Der Sozialstaat – einst der antisozialistische Schutzwall der nach der NS-Zeit nicht abgewickelten Kapital-Eliten gegen eine in ungünstigen Momenten möglicherweise zum Aufruhr neigende Bevölkerung – drohte nach 1989, sich in einen Schutzraum für diese Bevölkerung, besonders für ihre sozialschwachen Teile, vor den Begehrlichkeiten dieser Eliten zu wandeln. Deshalb wird der Sozialstaat mit Hilfe der Politik in einen Kontroll- und Disziplinierungsstaat »umgebaut« – Schritt für Schritt begleitet mit der jeweiligen Mär.
Den Deutschen drohe nach den »Wirtschaftsflüchtlingen« und den »Arbeitsscheuen in der sozialen Hängematte« nun ein weiteres Ungemach: die Verheerung durch Überalterung. Weil immer weniger Menschen deutschen Passes geboren und die Rentner immer gesünder werden, würden im Jahre 2050 auf einen Menschen, der älter geworden ist als 65 Jahre, nur noch zwei kommen, die zwischen 15 und 65 Jahre alt sind; heute beträgt die Quote noch eins zu vier. Die Alten würden auf geradezu unverschämte Art zur Last für die Jungen, nicht zuletzt weil sie am Ende ihres Lebens angeblich auch noch länger, schwerer und damit teurer krank würden. In »großer Zeit« hieß das »unnütze Esser«.
Daß die Gesellschaft auch für die Jungen, völlig zu Recht, erhebliche Mittel aufwendet, dieser Bedarf aber bei sinkender Geburtenrate – wenn auch disproportional – zurückgeht, wird verschwiegen, soll hier aber wenigstens erwähnt sein. Das eigentlich Demagogische an dieser Argumentation ist jedoch etwas anderes. Mit ihr wird suggeriert, daß die Gesellschaft vor einer völlig neuen Erscheinung stehe. Jeder Nichteingeweihte soll glauben, in den vergangenen Jahrzehnten habe das Verhältnis stets vier zu eins betragen, und nun plötzlich werde alles ganz anders. Ein Blick in die Statistik zeigt aber: Im Jahre 1900 kamen auf einen Menschen, der älter als 65 Jahre war, mehr als zwölf, die zwischen 15 und 65 Jahre alt waren. Nicht das 21. Jahrhundert, sondern das 20. Jahrhundert war das Säkulum, in dem sich das zahlenmäßige Verhältnis der Generationen zueinander auf das Heftigste verschob – was damals seltsamerweise aber niemanden störte. Im Gegenteil! Es war die Zeit, in der der Sozialstaat, unter anderem mit einem leistungsfähigen Rentensystem, aufgebaut wurde.
Denn für die Frage relevant, ob für die Renten Geld da ist oder nicht, ist nicht in erster Linie die Größe der einzelnen Generationen, sondern die Tendenz der Produktivitätsentwicklung. Mit ihr wurde in der Vergangenheit die Verschiebung zwischen den Generationen nicht nur aufgefangen, sondern auch für viele ältere Menschen eine menschenwürdige Rentenhöhe möglich – und das unter kapitalistischen Bedingungen, unter denen die Ergebnisse des Produktivitätsfortschrittes immer nur zu einem Teil der Allgemeinheit zugute kommen, weil ein anderer Teil als Profit angeeignet wird. Seit Jahren beträgt in Deutschland der jährliche Produktivitätsfortschritt 1,6 Prozent; vom Neugeborenen bis zum Greis wird pro Kopf ein Bruttoinlandsprodukt von 25547 Euro erzeugt – von dem durch privatkapitalistische Aneignung ein Teil natürlich der schmalen Kapital-Elite in und außerhalb Deutschlands zufließt, während die Mehrheit der Bevölkerung über deutlich weniger, die meisten aber noch über einen hinreichenden Teil verfügen. Selbst wenn man für die nächsten 45 Jahre statt eines jährlichen Produktivitätswachstums von 1,6 Prozent einen Zuwachs von nur einem Prozent annimmt, ergäbe das trotzdem eine Erhöhung des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts auf 35700 Euro im Jahre 2050. Geld – auch für die Renten – wäre also genügend da.
Das ist im übrigen ein pessimistisches Szenario – denn es geht von einer gleichbleibenden Arbeitslosigkeit aus, was nicht unbedingt so sein wird. Im Augenblick sind von den Menschen, die zwischen 15 und 65 Jahre alt sind, lediglich 69 Prozent berufstätig. Würden alle, die arbeiten wollen, es auch können, betrüge die Quote 83 Prozent. Das würde bedeuten: Selbst bei einem nicht wachsenden Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (was in der Realität nun wirklich ausgeschlossen ist) würden, falls die Arbeitslosigkeit bis 2050 verschwände, für die Renten kaum weniger Mittel zur Verfügung stehen als heute. (Zumindest die Frauenbeschäftigungsquote, da sind sich die Experten mehrheitlich einig, wird im Jahre 2050 eine Höhe erreichen, wie sie heute schon in den fortgeschrittenen europäischen Ländern üblich ist.)
Das eigentliche Problem ist also nicht der Zuwachs des Reichtums, sondern seine Verteilung. Hier setzt die neoliberale Politik an, allerdings zuungunsten der Gesellschaft: Mit dieser Politik soll bewirkt werden, daß künftig der gesamte Produktivitätszuwachs in Profit verwandelt werden kann. Da müssen dann schon mal alle Opfer bringen, auch die Rentner, diese Parasiten.

Weiteres unter: www.verdi.de/wirtschaftspolitik (»Mythos Demografie«)