Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 10. Mai 2004, Heft 10

Gras drüber, die Erste

von Reinhard Stöckel

Hier, so hatte es auf dem Schild gestanden, entsteht eine Wiese. Jetzt ist sie da, die Wiese. Im niederlausitzer Sommerwind wiegen sich leicht gebräunte Gräser und duftende Kräuter. Beifußpollen und andere allergene Blütenstäube schweben durch die Luft, sedimentieren auf einem neuen Schild: Hier stand ein Haus des sozialistischen Wohnungsbauprogramms.
Was nicht auf dem Schild steht: Unter dieser Wiese liegt Karst. Henri Karst, ein ehemaliger Mensch. Jetzt Staub vom Staube, Menschenstaub. Allergologisch unbedenklich.
War unter die Abrißbirne geraten und in die mobile Steinbrechanlage, also Staub zu Staub. Da liegt er nun, von Würmchen durchzogen, maulwurfdurchschaufelt, bakterienzersetzt. Einzig, weil er sich weigerte, seine Wohnung, Typ P2 – Nichts gegen P2, man war doch froh … – seine Wohnung also zu verlassen. Er, der letzte Mieter wollte nicht ausziehen. Wollte nicht? Konnte nicht! Wir haben recherchiert.
Karsts ehemaliger Nachbar Freddy B. sitzt im fernen Nürnberg unter einer rustikalen schmiedeeisernen Stehlampe und gibt Auskunft:
Ich bin noch mal rüber zu ihm, bevor ich rüber bin, nach drüben, ich meine hierher in den Süden. Nach Franken. Franken, nicht Bayern, da sind die genau. Ich meine, Sie wollen ja auch nicht mit Sachsen oder Polen verwechselt werden. Jedenfalls hatte er mich gesehen, als ich unsere Stehlampe … Ich wollt sie ja der Arbeiterwohlfahrt … Aber Gisela sagt: Haben wir was zu verschenken? Haben wir nicht! Gerade jetzt wo wir in den Westen …
Jedenfalls hat Henri mich gesehen, als ich hinter den Möbelpackern her mit der Lampe durchs Treppenhaus …
Gibt ja in diesen Blöcken kein Fahrstuhl, fünf Etagen und kein Fahrstuhl! Hier, hier in Franken, die haben Fahrstühle sogar in Eingeschossern.
Henri, sage ich, als ich mit meinen zwei Bier … Wollte so was ja eigentlich vermeiden, solche Abschiedsszenen. Hatte ich Henri also einen Zettel in den Briefkasten gesteckt: Mußte dringend nach Franken. Ruf doch mal an!
Ja gut, meine Telefonnummer hatte ich vergessen draufzu … Na ja, jedenfalls, haben wir uns noch mal gesehen im Treppenhaus. Aber sein Blick, nee, sein Blick … So muß Cäsar geguckt haben, als dieser Brutus …
Kann ich da was für? Sicher, wir haben zusammen gesoffen und uns geschworen: Wir bleiben hier! Nein, nicht ’89 – ’99 war das, als die ersten auch aus unserem Aufgang weg sind.
Mensch Henri, sag ich, ich wollte dir gerade unser Stehlampe bringen. Habe ich selber geschmiedet, sag ich, damals in Schwarze Pumpe, Konsumgüterproduktion. Nimm sie als Abschiedsgeschenk von mir – und von Gisela.
Später, wie gesagt, bin ich noch mal rüber. Mit meinen letzten zwei Radebergern. Die wollte ich eigentlich mitnehmen in den Westen, man weiß ja nie, ob die dort Ostprodukte nicht boykottieren. Erst wollte er mich gar nicht reinlassen. Bei mir stinkt’s, hat er gesagt.
Macht nichts, sag ich, das kommt in den besten Familien vor.
Nein, sagt er, Hundescheiße. Er hätte in nen Hundehaufen getreten.
Ich habe trotzdem noch mal mit ihm angestoßen: Prost Henri!
Er sagte, er hätte auch fast was gehabt. Auch im Süden. In Dresden. Aber, die Sachsen hätten da so eine Sache ausgegraben, so Gauck-Birthler-Rosenholzmäßig.
Mach dir nichts draus, sag ich. Wir mußten alle wählen gehen und am 1. Mai demonstrieren. Wir waren alle FDJ und DSF und FDGB. Und du warst eben außerdem IM.
Man, sagt er, ich war achtzehn und …
Fürn Frieden. Oder war’s für Geld? Na ja, stinkt beides nicht. Aber, sag ich, riecht ja wirklich streng bei dir. Stasi und Hundescheiße, das klebt. Na, denn Prost!
Daß die aber auch so anbäckt, sagt er und grübelt.
Man müßte was erfinden, sag ich.
Daß, wenn man reinlatscht, sagt er, das Zeug nicht am Schuh kleben bleibt …
… sondern, sag ich, am Straßenpflaster!
Antihaftbeschichtung für Schuhsohlen.
Genial, sag ich, das ist die Marktlücke, da mußt du rein! Rein wie in die Weiber …
Da holt er aus der Küche ein Glas Nutella.
Was, zum Bier?, sag ich.
Nee, sagt er, ein Experiment. Guck, an deinem Schuh klebt‘s auch.
Tatsächlich, sag ich, aber riecht nicht so. Also Henri, sag ich, wenn ich da unten bei die Franken nicht schon unterschrieben hätte, würde ich glatt mitmachen in deiner … Nichts-Klebt-An-AG. Weißt du was, komm doch mit …
Ich meine, er hätte doch mitkommen können, er hätte doch nicht in seiner Karnickelbuchte hocken bleiben müssen. Er hätte doch hier unten – so Laptop- und Lederhose-mäßig sein Ding erfinden können. An Hundekacke jedenfalls fehlt es auch in Franken nicht.

Fortsetzung folgt