von Detlef Kannapin
Es gibt sie ja schon lange nicht mehr, die Kritiker von Format. Vom Film will ich gar nicht reden. Da wird jeder ästhetische Spagat zwischen lebensbejahend und suizidfördernd in ein und demselben Film zur filmhistorischen Tat hochgesprochen. Nein, um das Theater geht es, um das Berlinische zumal. Vergeblich wird man in der so vielgerühmten Hauptstadt unseres lieben, reformgeschädigten, antisozialistischen Vaterlandes so etwas Prägnantes wie einen Alfred Kerr der Gegenwart finden, obwohl wir ihn, wie einiges andere auch, jetzt so dringend bräuchten. Zu viele selbsternannte Iherings – was natürlich voraussetzt, daß der heutige Kritikerstamm weiß, wer Ihering war – zu viele profilneurotische Selbstdarsteller bevölkern die Kritikerszene und dünken sich in Ahnung ums Theater.
Zum Beispiel letztens wieder. Die Berliner Morgenpost, das bekannte Kasuppke-Organ aus der Spandauer Kleingartenkolonie Frühlingstreu, behauptete mit Schmackes, die neueste Inszenierung der Neuköllner Oper hätte in Andrew-Lloyd-Webber-Manier ein Phantom aus der Büchse der Pandora gelassen. Und nun könne es nicht mehr eingefangen werden, was bedeute, daß der angestrebte Jet Set der Theatermacher nach New York strebe und dabei bös’ in Erfurt lande. Was war passiert? Nach Voraufführungen in Wien hatte am 22. April das Musical Die traurige Ballade von John Merrick, genannt Der Elefantenmensch seine Berliner Premiere in der Neuköllner Oper. Die authentische Geschichte aus dem Viktorianischen London von 1862 erzählt von einem Menschen, der durch Krankheit auf der halben Körperseite Wucherungen aufweist, die ihn zum Freak machen und seine Lebensdauer stark begrenzen, von der Akzeptanz durch die Umwelt ganz zu schweigen. Der um seine akademische Karriere besorgte Dr. Treves nimmt sich des Elefantenmenschen an, um sich vor seinen Fachkollegen zu profilieren. Die Königin wird auf Merrick aufmerksam, die sogenannte gute Gesellschaft bestaunt ihn. Aber auch diese »Akzeptanz« ist keine. Der Begaffungen – egal ob auf dem Jahrmarkt oder am Hofe – überdrüssig, stirbt der Elefantenmensch am Ende, ohne das erreicht zu haben, was er wollte: Liebe ohne Vorbedingungen.
Es ist festzuhalten: Die Regie von Peter Lund ist, man möchte fast sagen: wie immer, solide bis brillant, die Sänger-Schauspieler sind beeindrukkend, und der Inhalt des Stückes brennt vor Aktualität. Seit wann wird über Genetik diskutiert? Wer schafft den perfekten Menschen? Stalins Gesinnungspolizei oder die Labore von Bayer in Leverkusen? Wie geht die Gesellschaft mit ihren Schwachen und Kranken um? Darüber ist zu reden.
Die MoPolizisten der Zeit halten natürlich nichts von solchen Atavismen. Sie mokieren sich lieber über Anzüge auf Premierenfeiern, über vertane formale Chancen, salbadern ihr »Ja, ja, wissen wir« in die Spalten der FDGO-Organe und kümmern sich nicht um Inhalte. Das alles wäre nicht so schlimm, wenn es nicht Außenwirkung erzeugen würde. Der Regisseur Lund ist, wie mir scheint, im ernsten Fach weit besser aufgehoben, weil er gezielt mit dem Gespür für Zeitprobleme anspruchsvolles Theater machen kann, ohne die unterhaltende Komponente zu vernachlässigen. Seiner konsequenten dramaturgischen Zuspitzung verdankt Der Elefantenmensch das Unbehagen der Darstellung. Mittlerweile hat Peter Lund nach der Übernahme neuer Projekte die Intendanz der Neuköllner Oper abgegeben. Zu befürchten ist damit entweder die Verbroadwayisierung oder die Dauer-Soap Neukölln, wo bislang mit dem wenigen Geld das Musical aus den Katakomben des Spaßbetriebes herausgehalten werden konnte.
Und Kerr? Dem wäre vermutlich der unangebrachte bombastische Sound des Abends auf den Wecker gegangen. Ansonsten hätte er dialektisch-ernst gegrinst, einige kleine Mängel aufgedeckt, das Anliegen aber als notwendig hoch geschätzt.
Gott sei’s getrommelt und gepfiffen, daß ich kein Theaterkritiker bin.
Die traurige Ballade von John Merrick, genannt Der Elefantenmensch von Niclas Ramdohr (Musik) und Peter Lund (Text). Regie: Peter Lund. Noch bis Ende Mai in der Neuköllner Oper Berlin.
Schlagwörter: Detlef Kannapin