Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 12. April 2004, Heft 8

Orfeo 1607

von Liesel Markowski

Fast 400 Jahre ist sie alt und die erste bedeutende Oper überhaupt: L’orfeo vom kühnen Renaissance-Italiener Claudio Monteverdi und seinem kongenialen Librettisten Alessandro Striggio 1607 in Mantua uraufgeführt. Jetzt wurde das Frühwerk des Musiktheaters zu den Cadenza Barocktagen 2004 in der Berliner Staatsoper als Koproduktion mit den Innsbrucker Festwochen gegeben. Uraltes Museum? Keineswegs: Es ist große Musik, bezaubernd frisch und lebendig geblieben. Und die emanzipatorische Ausstrahlung der antiken Sage von dem aufmüpfigen Sänger, der Menschen und Tiere zu betören weiß, der sich über Grenzen und Gesetze hinwegsetzt, um seine geliebte Euridike aus dem Totenreich zurück ins Leben zu holen, wirkt bis in unsere Gegenwart.
Eine Parabel. Merkwürdig und undurchsichtig zieht Regisseur Barrie Kosky die Erfindung der Fabel ins Heute: Orfeo überreicht nach dem Eingangssignal der Bläser von der Empore dem Dirigenten die Partitur. Im Prolog verkörpert Euridike allegorisch La Musica, um dann im ersten Akt gemeinsam mit jungen Leuten (eigentlich Hirten und Nymphen), den Freunden Orfeos, singend, tanzend und albern gestikulierend, Notenblätter herumschwenkend, offenbar mit Komponieren und Probieren beschäftigt zu sein. Alles im Outfit der »Goldenen Zwanziger« – eine aufdringliche und oberflächliche Aktualisierung des antiken Arkadien. Eindrucksvoll dagegen ist die düstere Unterwelt, die solchen Rummel beendet, Herrenhüte und Jackets auf dem Schnürboden verschwinden läßt. Zeichen heutiger Lebenszeit ziehen am dunklen Bühnenhintergrund vorüber: Häuser, Straßenbahnen, Telefone, Säuglinge (Bühnenbild: Klaus Grünberg). Unentschiedenheit am Schluß: Nachdem Orfeo, von Pluto mit dem endgültigen Verlust Euridikes bestraft, durch den Musengott Apollo laut Partitur in himmlische Sphären entführt wird, stürzen zur wild klingenden heidnischen Moresca die Glieder eines von den Bachantinnen zerrissenen zweiten Helden (dem antiken Original entsprechend) herab.
Trotz manch mythologischer Wirrnisse der Szene ging von der Musik starke Wirkung aus. Musik ist ja auch beim Orpheus-Stoff eigentliches Thema. Schon darum war die musikalische Verantwortung in den Händen von René Jacobs, dem vorzüglichen Spezialisten für alte Musik, äußerst willkommen. Sein Dirigat am Pult des concerto vocale und der akademie für alte musik berlin inspirierte zu einem Wunderklang der charakteristischen Farben, zu Fülle und Feinheiten, wie bisher kaum begegnet, vom zarten Pianissimo bis zum ausgreifenden Forte (nachgebauter) historischer Instrumente.
Reizvolle Echo- und Fernwirkungen wurden möglich. Dazu tänzerische Ritornelle und subtile Gesangsbegleitung. Gesungen wurde mit hohem künstlerischen Anspruch. Ganz ausgezeichnet der Bariton Stéphane Degout als Orfeo mit stimmflexiblem Ausdruck, auch Nuria Rial (Sopran) als Euridike und das vocalconsort berlin im Tutti. Monteverdis Musik, phantasievoll arrangiert und »inszeniert« – dies machte den Orfeo im Haus Unter den Linden zum außergewöhnlichen Erlebnis der Cadenza.