Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 26. April 2004, Heft 9

Ikonen des 20. Jahrhunderts

von Klaus Hammer

Es ist das allerletzte Bild und vielleicht das kraftvollste, das er gemalt hat – Der Traum (1910) des »naiven« Zöllners Henri Rousseau. Es ist Nacht, eine schwarze Gestalt spielt beschwörend die Flöte, und ihr Klang verzaubert die wilden Tiere des Dschungels. Zwei Löwinnen streckt eine nackte Schöne auf rotem Sofa die Hand zum Gruß entgegen. Das Bild ist zeitlos wie der Mythos. Es hat auch die Kraft, eine universale Erfahrung auszudrücken und ähnelt in der Wirkung der Musik. Zwei Jahre vor dem Traum hatte Picasso ein Bankett für Rousseau gegeben, denn er bewunderte dessen selbstsichere Vereinfachung und Abstrahierung der Dinge. Rousseau, der sich die Malerei selbst beigebracht hatte, drückte seine Freude an Farbmustern aus, die Matisse später immer wieder darstellte. Weil er mit den Gesetzen der Perspektive nicht auf gutem Fuß stand, malte er flache Bilder und das wußten die Kubisten zu schätzen, die ganz bewußt jede Illusion der Perspektive mieden. Daß er die Wirklichkeit in eine eigene Vision verwandelte – in seine innere Realität –, hat metaphysische Maler wie Chirico und auch die Surrealisten wie Magritte inspiriert. Und die Mischung von nicht zusammenpassenden Elementen ist zu einem Stilmittel vieler Künstler und Richtungen geworden.
Dieses Schlüsselbild für die Malerei des 20. Jahrhunderts bildet den Auftakt der hervorragenden Schau des Museum of Modern Art (MoMA) im Untergeschoß der Neuen Nationalgalerie. Erstmals hat sich das berühmte New Yorker Museum von 200 seiner hervorragendsten Werke getrennt und sie für sieben Monate nach Berlin als einzigem europäischen Standort entliehen. In 75 Jahren hat dieses Pantheon der modernen Kunst nicht nur eine einzigartige internationale Sammlung zusammengebracht und wegweisende Ausstellungen veranstaltet. Es hat auch die frühere Kluft zwischen Kunstszene und Massenpublikum schließen helfen. Moderne Kunst, eingeschlossen alle visuellen Künste, auch Design und Fotografie, gehörte seit MoMA nicht mehr zu den Randgebieten der Kunstgeschichte. Doch die Beschränkung der Auswahl allein auf die klassischen Medien Malerei und Skulptur läßt von dieser Vieldimensionalität kaum etwas spüren.
Was sich aber um den Traum des Zöllners Rousseau gruppiert, das sind hochkarätige Werke des Postimpressionismus (die Landschaften Cézannes aus sich überlagernden, abgegrenzten gestaffelten Farbschichten, die in einen flimmernden Schleier aus Farbe und Licht getauchten Bilder Seurats, van Goghs ekstatische Visionen und Gauguins glühende Farbakkorde), des Symbolismus (Klimt, Ensor, Munch) und Kubismus (Picasso, Braque, Juan Gris). In den schachtelartigen Räumen des Mies-van-der-Rohe-Kubus wird es dann schwer, der kunstgeschichtlichen Chronologie zu folgen. Panoramaartig breiten sich Claude Monets Seerosen (um 1920) aus: ein Stück Grenzenlosigkeit. Das Unbestimmte einzufangen, das Flüchtige zu fixieren, dem Vergänglichen und Komplexen Form und Platz zu geben – damit werden hier die wichtigsten Bestrebungen der modernen Kunst zusammengefaßt.
Hält man sich dann zur Rechten, wird man zunächst auf den Kubismus und die abstrakte Kunst verwiesen. Schon durch die differenzierten Werkgruppen führen die beiden Antagonisten Picasso und Matisse in der Ausstellung einen komplexen Dialog. Beide wollten aus unterschiedlichen Richtungen die Natur auf Distanz halten. Picasso treibt die kubistische Stilisierung bis zur völligen Abstraktion. War sein Alter Ego der Harlekin (1915), so hat er in dem sinnenden Mädchen vor einem Spiegel (1932) mit der Andeutung genitaler Formen die Verheißung sexueller Vereinigung und Fruchtbarkeit gemalt. Auch ist Matisses Der Tanz (1909) mitgekommen, eines der überzeugendsten Bilder von körperlicher Ekstase, die im 20. Jahrhundert gemalt wurden.
Großen Raum nehmen die phantastische Kunst, Dada und der Surrealismus ein. Weitaus rarer macht sich hingegen die gegenständliche Kunst zwischen den beiden Weltkriegen. Der linke Teil ist der neuen amerikanischen Malerei vorbehalten. Die amerikanische Kunst der 1940er Jahre wollte das »kollektive Unbewußte« durch unerwartete Assoziationen und zufällige Zusammenstellungen erschließen.
Die Pop-Artisten wiederum waren fasziniert von der Bilderwelt der Massenmedien; das vergrößerte Raster von Comic strips diente zum Beispiel Roy Lichtenstein als Mittel, das Bild außer Reichweite zu ziehen (Ertrinkendes Mädchen, 1963).
Recht unterbelichtet zeigt sich die mit Plastiken, minimalistischer und Konzept-Kunst bestückte obere Halle. Ein Rodin bleibt immer ein Rodin, egal, wo er auch steht. Doch für die minimalistischen und post-minimalistischen Assemblagen hat das Museum die Normen zu setzen, die solche Kunstwerke als Kunst ausweisen. Sonst hinterlassen sie nur den Eindruck einer optisch wirkungslosen Materialanhäufung, als Teil einer Kunstbewegung werden sie nicht erkennbar.
Alles in allem eine exquisite Schau der Superlative, die zugleich dem MoMA-Prinzip, eine Art »begehbares Lehrbuch der Kunstgeschichte« zu sein, voll Rechnung trägt.

Neue Nationalgalerie Berlin, Potsdamer Straße 50, dienstags, mittwochs, sonntags 10 bis 18 Uhr, donnerstags, freitags, samstags 10 bis 22 Uhr, bis 19. September. Katalog 29 Euro