von Fritz Klein
Über Sibirien als Land der Gefangenschaft und Verbannung in zaristischer und sowjetischer Zeit existiert eine Fülle wissenschaftlicher, publizistischer und belletristischer Literatur. Zu einer bisher kaum beachteten Facette des großen Themas, dem Schicksal vieler Tausend Zivilgefangener im Ersten Weltkrieg, legen Karin Borck und Lothar Kölm eine aussagekräftige Quelle ganz eigener Art vor. Russische Truppen, die zu Beginn des Krieges kurzzeitig Teile von Ostpreußen besetzt hatten, nahmen bei ihrem Rückzug im September 1914 etwa elftausend Zivilisten aus diesem Gebiet gefangen, die zum größten Teil auf Kriegsgefangenenlager in Sibirien verteilt wurden.
Unter ihnen befand sich der verwitwete Dorfschullehrer Sczuka aus dem masurischen Ort Popowen mit seinen zwei Töchtern Elisabeth und Hildegard, seiner Nichte Hedwig und der Haushälterin Marie Ebner. Im November 1920 kehrten sie nach Popowen zurück. Über die abenteuerlichen, zeitweise gefährlichen Umstände der in diesen sechs Jahren erlebten und erlittenen Odyssee führten die Kinder Tagebuch, angehalten vom Vater und Lehrer. Er selbst verfaßte im Jahre 1934 umfangreiche Erinnerungen aus dem Weltkrieg und aus meiner sechsjährigen Gefangenschaft in Sibirien. Aus den seit einigen Jahren in der Prussica-Sammlung Trunz der Universität Münster befindlichen Manuskripten wählten die Herausgeber die Tagebücher der Tochter Elisabeth, die bis zum Juli 1919 reichten. Ergänzt für die restliche Zeit bis zur Rückkehr durch die entsprechenden Partien aus den Erinnerungen des Vaters, entstand so eine Publikation, die große Aufmerksamkeit verdient.
Erstaunlich ist die Autorschaft. Ein Kind von elf Jahren, als es 1915 mit seinen Aufzeichnungen beginnt, beendet als Fünfzehnjährige im Sommer 1919 die Niederschrift einer überaus informativen, aussagekräftigen Schilderung dramatischer Erlebnisse und Vorgänge. Retrospektiv beschreibt sie zunächst die Zustände in Ostpreußen während der russischen Besetzung, die Umstände der Verhaftung, die quälend lange Fahrt ins Ungewisse in einem mit Gefangenen voll gestopften Zug, die nach zwanzig Tagen schließlich im sibirischen Krasnojarsk am Jenissej endet. Dort bleiben die Sczukas zwei Jahre, werden im November 1916 weiter verschickt in das hundert Kilometer Jenissej abwärts gelegene Dorf Nachwalskoje, von wo aus nach dem Frieden von Brest-Litowsk im März 1918 die Rückreise beginnen kann.
Ein schon in den ersten Passagen angeschlagener Ton eines naiven Realismus zeichnet den ganzen Text aus, der von Jahr zu Jahr an Reife gewinnt. Anschaulich und schnörkellos berichtet Elisabeth von dem, was sie sieht und erlebt, vom Zusammenhalt der kleinen Familie, der ihr das Durchhalten der schlimmen Zeit ermöglicht, von Gewalt, Willkür, Übergriffen und Korruption, aber immer auch von einzelnen freundlichen Gesten der russischen Bewacher, von der Hilfe amerikanischer, späterer schwedischer Missionen, die auf der Grundlage damals noch funktionierender internationaler Abkommen die postalische Verbindung der Gefangenen mit der Heimat organisieren, ihnen mit aus Deutschland und internationalen Hilfsfonds gesammelten Geldmitteln ein Minimum an Lebensunterhalt ermöglichen, Beschwerden an die russischen Behörden vermittelnd weiterleiten.
Problematisch war der Status der Zivilgefangenen, »Kriegsgefangene ohne militärischen Rang«, eine Kategorie, die es in den Bestimmungen der Haager Landkriegsordnungen, die für gefangene Militärangehörige immerhin einige Rechte festsetzten, nicht gab. Aus dieser Situation, in der es offenbar Zuständigkeitsunsicherheiten auch unter den russischen Behörden gab, folgte ein ständiger Wechsel der Unterbringung. Immer wieder mußten die Sczukas und ihre Leidensgenossen umziehen, vom »normalen« Kriegsgefangenenlager, in dem sie zusammen mit gefangenen deutschen und österreichischen Soldaten einsaßen, in eine von den Militärs getrennte Unterbringung im Lager, in eigens für sie eingerichtete »Nebenlager« außerhalb des eigentlichen Lagers, in eher zivile Quartiere bei Privatleuten, letzteres vor allem in den zwei Jahren in Nachwalskoje. Eingehend erzählt Elisabeth von dieser bewegten Lebensweise, schildert die unterschiedlichen Bedingungen, mit denen man fertig werden muß, die Tatkraft der Familie in der Bewältigung aller Beschwernisse, das Verhältnis zu den Menschen, mit denen man zu tun hat. Eindrucksvoll sind die Schilderungen vielfältiger Aspekte sibirischer Lebensweise, die Elisabeth einfühlsam beobachtet hat. Deutlich distanziert von jeder Überheblichkeit erscheinen die Sibirier »als Menschen wie wir« in ihrem Alltagsleben, beim kunstvollen, exakt beschriebenen Bau ihrer Holzhäuser, in Anlage und Betrieb der Bauernwirtschaft, in ihren Festen, in Kirche und Schule, in der Totenehrung, in der anheimelnd beschriebenen Schönheit der Natur.
Dramatisch waren schließlich die Umstände, in die die Sczukas in den mehr als zwei Jahren von Kriegsende bis zur Rückkehr gerieten. Die von Anfang an immer wieder erhoffte, gerüchteweise mehrfach in Aussicht gestellte Entlassung in die Heimat schien endgültig bevorzustehen, als mit dem Frieden von Brest-Litowsk zwischen Deutschland und Sowjetrußland der Krieg beendet war. »Ihr seid frei«, meinten Rotarmisten. Der Rückkehr standen aber nicht nur die enormen Schwierigkeiten des weitgehend zusammengebrochenen Transportwesens im Wege. Es waren die Turbulenzen, die blutig ausgetragenen Kämpfe des Bürgerkriegs, die eine rasche Heimreise unmöglich machten. Rote und Weiße, die Tschechoslowakische Legion, das Regime des Admirals Koltschak, der vorübergehend eine antibolschewistische Regierung in Sibirien installierte, die den Vertrag von Brest-Litowsk nicht anerkannte und Rußland nach wie vor im Kriege mit Deutschland sah: Im Strudel ihrer Auseinandersetzungen mit ihren wechselvollen Wirren suchten die Leute aus Popowen sich durchzuschlagen. Die Beschreibung auch dieses Abschnitts der sibirischen Leidenszeit ist überaus aufschlußreich, erlaubt sie doch einen eigenen Blick »von unten« auf ein großes, folgenreiches historisches Geschehen. Menschen als Objekte geschichtlicher Verläufe, die unabhängig von ihrem Willen in Gang gesetzt werden, zugleich aber Subjekt dieser Verläufe, die Wirklichkeit gewinnen erst durch das Leben, die Haltung und das Handeln der »Objekte«. Man kommt ins Grübeln über höchst komplizierte Zusammenhänge, liest man, was die elf- bis fünfzehnjährige Elisabeth zu Papier gebracht hat.
Karin Borck, Lothar Kölm (Hg.): Gefangen in Sibirien. Tagebuch eines ostpreußischen Mädchens 1914-1920, fibre Verlag Osnabrück, 267 Seiten, 25 Euro
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