Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 15. März 2004, Heft 6

Schreiben als Rettung

von Klaus Hammer

Als er 1990 nach vierzehnjähriger Abwesenheit in seine Heimatstadt Sangerhausen zurückkehrte, hat er die nächtlich menschenleeren Straßen und abweisenden Häuserfassaden im gespenstischen Hell-Dunkel fotografiert – wie verlassene Bühnenkulissen muten diese Bilder der Tristesse und des Verfalls an. Hier ist der Autor, Maler, Bühnenbildner und Regisseur Einar Schleef vor 60 Jahren geboren worden, hier hat er seine Kindheit und Jugend verbracht, bis er dann zum Malerei- und Bühnenbild-Studium nach Berlin übersiedelte, als Regisseur unter anderem am Berliner Ensemble arbeitete und schließlich 1976 die DDR verließ. Doch auf seinen Herkunftsort ist er lebenslang fixiert geblieben.
Fünf Jahre nach seinem Tod ist nun der erste Band seiner Tagebücher erschienen, die bereits der neunjährige Sangerhausener Schüler zu schreiben begann und die er bis zuletzt fortführte. Schleef hat sie stets mit sich geführt. Er war ständig in Sorge, daß sie verloren gehen könnten, hat zahlreiche Kopien angefertigt und sie an verschiedenen Orten deponiert. Sie sind eine Mischung originaler Einträge mit späteren Zusätzen und Kommentaren, wechselten von der handschriftlichen Aufzeichnung zur Schreibmaschinenschrift und zur Eingabe in den Computer – ständig haben sich Dateiserien und Bearbeitungsschritte überkreuzt. So ist es schon eine editorische Meisterleistung, das überaus heterogene Material in eine Publikationsform zu bringen, die Schleef selbst angestrebt hatte.
Das Tagebuch-Ich wächst in einer Umgebung auf, in der Verstellung und Verschweigen die gängigen Verhaltensweisen darstellen. Seine Kindheit wird vernichtet durch die repressiven Erziehungsmethoden der Eltern, sein Leiden gründet auf Liebesentzug wie auf intellektueller Unterdrückung. Der Vater hat ihn noch mit zwanzig geschlagen, die Mutter erdrückte ihn mit ihrer Haß-Liebe, der Vater zerreißt die Zeichnungen seines Sohnes, die Mutter klebt sie wieder zusammen, verteidigt aber die Strafaktionen des Vater.
Der Junge setzt sich aus dem, was um ihn herum und in höchst gewaltsamer Weise mit ihm selbst geschieht, ein willkürliches, eigenwilliges Mosaik von Erklärungen zusammen. So kann das Tagebuch als ein fortwährendes Erzeugen und Verwerfen von Deutungsvarianten gelesen werden. Wie soll man auf die bedrängende Umwelt reagieren? Keine Regung zeigen, einfach innerlich tot sein? Nicht auffallen, sich so wie die anderen verhalten? »Das innerliche Eingepreßtsein, das ewige Lügen, das So-tun-als-ob, ich kann das nicht ertragen, und doch ordne ich mich unter, mache es mit«. Das Verhalten derjenigen, die er verurteilt, beobachtet er auch bei sich selbst. Omnipotenzgefühle und solche des totalen Ausgeliefertseins liegen dicht beieinander.
Der Schreiber vertraut dem Tagebuch seine geheimsten Gedanken an, manchmal erzählt er ganze Geschichten, Lebensbilder, Träume und Märchen, dann wiederum sind es nur lapidare Alltags-Notate, genau recherchierte Lebensumstände. Seine Schulaufgaben, den Unterrichtsstoff, seine Deutsch-Aufsätze, seine Zeugnisse, Freund- und Feindschaften mit den Kameraden teilt er ebenso mit wie seine Lektüre-, Film- und Theatererlebnisse, seine Erlebnisse im Zeichenzirkel, in der Tanz- und Theatergruppe. Einerseits versteht er es, die Dinge auf den Punkt zu bringen, und andererseits ertrinken die Texte mitunter in pubertärer Geschwätzigkeit. Doch das dichte Netz von Bezügen und Verknüpfungen, dieses Netz an Genauigkeit und Präzision schafft Distanz, nicht Nähe, Eigenwirklichkeit statt penetranten Realismus. Ob er nun in sein Tagebuch »einschreibt«, ob er zeichnet und malt oder fotografiert – die Personen seiner Umwelt gleichen Bühnenfiguren, Modellen, die er beobachtet, deren Verhalten er zu ergründen sucht.
Und dann muß er feststellen, daß auch das Tagebuch keine Lösung ist, es »verrät nichts, es versucht sich wegzuquatschen, es lügt …« Deshalb nimmt er Eintragungen als Notizen einer anderen Person vor. Versatzstücke bereits erzählter Begebenheiten und früher geführter Gespräche werden erneut unter die Lupe genommen. In den nachgestellten Erinnerungsversuchen spielt er die emotionale Struktur der eigenen Existenz noch einmal auf fiktionaler Ebene durch.
Die Literatur – das Tagebuch – wird hier zum Überlebens-Mittel, das Schreiben zur Rettung: durch Unverwundbarkeitstechniken. Durch Selbst-Distanzierung von dem, worin er sich selbst darstellt, durch Absplitterung des Ichs in mehrere Personen als Mittel der Ironie. Die Verwandlung der Umwelt in Requisiten und Prospekte raubt dem Bedrohlichen seine Realität, erklärt es zum verfügbaren Material. In seiner Imagination macht sich der hilflos seiner Umgebung Ausgelieferte zum Herrn über das bisher Gefürchtete, das vorgespielte Leben steht für das tatsächliche, wirkliche. Das läßt das Tagebuch zu einem widerstreitenden, aber aufregenden Lektüre-Erlebnis werden.

Einar Schleef: Tagebuch 1953 – 1963. Mit Abbildungen. Herausgegeben von Winfried Menninghaus, Wolfgang Rath und Johannes Windrich, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004, 416 Seiten, 30 Euro