Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 15. März 2004, Heft 6

Parallelaktionen

von Mathias Iven, Brüssel

Nach jahrzehntelanger Recherchearbeit – seit fast vierzig Jahren ist Karl Corino dem Werk von Robert Musil geradezu verfallen – liegt jetzt etwas vor, daß »nach Inkubationszeit und Länge« in die verdächtige Nähe zu Musils Hauptwerk, dem Mann ohne Eigenschaften, gerückt ist: ein »Ziegelstein von einem Buch«, ganze 1 426 Gramm schwer …
Jeder Biograph spielt mit der Vieldeutigkeit des Lebens. Corino sagte in einem Interview: »Es gibt in einer Biographie Wahrheiten, es gibt Wahrscheinlichkeiten, es gibt Möglichkeiten, und es gibt Leerstellen.« Um diese vier Teile zusammenzubringen, bedürfe es einer Versessenheit, eines »empiristischen Genauigkeitsethos« und eines »detektivischen Entschlüsselungsdranges«. Der kann auch nicht durch Druckfehler geschmälert werden (so kann sich Corino beispielsweise nicht entscheiden, ob Musils Großvater Matthias oder Mathias hieß, und auch bei der Frage, ob Friedrich Wilhelm Foerster, Sohn des Urania-Gründers Wilhelm Foerster und Vorbild für den Lindner im Mann ohne Eigenschaften, nun mit »oe« oder »ö« geschrieben wird, herrscht Uneinigkeit).
Wenn man, wie Corino, seine alltägliche Suche nach Fundstellen und Belegen zu einer Art Recherchierkunst entwickelt, die am Ende ein detailversessenes Epochengemälde hervorbringt, dann kann es auch dem glühendsten, eingefleischtesten und neugierigsten Musil-Verehrer an manch einer Stelle zuviel werden. Alles hat halt seine Vor- und Nachteile.
Im Gegensatz zu der zeitgleich erschienenen Biographie von Herbert Kraft (Paul Zsolnay Verlag Wien 2003) verspüren wir bei Corino keinerlei »philologische Leichtherzigkeit« – jedes Zitat wird exakt belegt; von den 2026 Seiten – und den noch dazu, vielleicht für die Notizen des Lesers?, vorhandenen 22 Leerseiten – entfallen fast 600 Seiten auf Anmerkungen, Register und Lebenslauf. Und gereicht es dem Autor etwa zum Nachteil, wenn er mit nie versiegender Entschlossenheit und Zitierfreude auf Musils literarische Texte als Auskünfte über dessen Leben zurückgreift? Hier die Biographie, dort die geschichtlichen, kulturellen sowie literarischen Quellen und Einflüsse …
Wir erinnern uns: Da sollte in Kakanien einmal eine Parallelaktion stattfinden. Grund: das 70jährige »segens- und sorgenreiche« Thronjubiläum Franz Joseph I. einerseits und andererseits das »bloß« 30jährige Wilhelms II. … Eine ganz andere Art Parallelaktion, die intellektuelle Gipfelkonferenz zweier begnadeter Geister, hat nicht stattgefunden. Und dennoch lohnt es sich, hier ein paar Worte darüber zu verlieren: Robert Musil, seit dem Wintersemester 1903 Student an der damaligen Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, wohnte zuerst in der nicht mehr existierenden Burgstraße 10, zog im folgenden Jahr, wie fast alle Berliner Studenten, das Mietzimmer wechselnd in den Westen der Stadt, in die Lützowstraße 82, später ging es zum Tempelhofer Ufer 35 und wieder zurück in die Lützowstraße 106, und dabei blieb es nicht … Musil veröffentlichte während seiner Berliner Zeit den Törleß, promovierte bei Carl Stumpf und Alois Riehl und ließ sich in das Telefonbuch des Jahrgangs 1910 unter der Berufsbezeichnung »Schriftsteller« eintragen. 1908, Musil hatte seine Dissertation eingereicht, verließ ein anderer Österreicher bereits wieder die Stadt.
Ludwig Wittgenstein hatte im Sommer 1906 in Linz die Schule beendet. Er entschied sich für ein Studium der Ingenieurwissenschaft in Charlottenburg. Am 23. Oktober immatrikulierte er sich an der Technischen Hochschule, der heutigen TU, als Student für Maschinenbau. Der späterhin so berühmte Philosoph lebte auf der anderen Seite des Tiergartens und dürfte kaum die Seminare eines Dilthey, Simmel oder Dessoir besucht haben – auch Musil tat das nur gelegentlich.
Interessant bleibt die unbewußte Parallelität der beiden Lebenswege. Beide beschäftigten sich vor Beginn ihrer eigentlichen Arbeit mit technischen Fragen – Musil hatte 1898 sein Studium an der Deutschen Technischen Hochschule Brünn begonnen und 1901 mit der Zweiten Ingenieur-Prüfung abgeschlossen; Wittgenstein ging von Berlin nach Manchester und beschäftigte sich an einer Außenstelle der Universität mit Flugexperimenten; Musils Brünner Lehrer Wellner hat der Erfindung des Hubschraubers vorgearbeitet, und Wittgenstein meldete im November 1910 eine Erfindung zum Patent an, die – über Umwege – zur Erfindung eines völlig neuen Hubschrauberkonzeptes führte, das 1943 erstmals getestet wurde. Als R. M. und L. W. begannen, ihrer eigentlichen Berufung nachzugehen, bestand diese zuvorderst aus einem täglich geführten Kampf mit den sich ihnen nicht ergebenden Worten. Technik – Philosophie – Literatur: Soweit scheinen diese Bereiche nicht auseinanderzuliegen.
Und auch wenn sich das zuletzt Dargestellte nicht in Corinos »enzyklopädischem Handbuch« findet – für bekennende Musil-Verehrer führt kein Weg an dem Buch vorbei.

Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie, Rowohlt Verlag Reinbek 2003, 2026 Seiten, 78 Euro