von Wolfram Adolphi
Als ich bei CNN Clinton im Verhör beobachtete, die Staatsanwälte blieben im ›off‹, schoß mir die Frage durch den Kopf: Hat das nicht stalinistische Züge? Im Namen des Rechts wird Recht – the rule of the law – zerstört; im Namen der Moral wird Moral in Heuchelei ertränkt; im Namen der Demokratie werden der Demokratie schwere Schläge versetzt. Es ist nie einer dafür zur Rechenschaft gezogen worden.«
Der das schreibt, weiß, wovon er spricht. Er hat die Welt gesehen wie kaum ein anderer. Ob »als einziger Passagier in einer Tarom-Maschine« von Belgrad nach Bukarest Anfang der sechziger Jahre, als »der Geist Stalins« noch immer »wie das Gespenst im Dachstuhl … über den balkanischen Landschaften« hing und einen normalen Verkehr zwischen Jugoslawien und seinen Ostblock-Nachbarn Rumänien, Bulgarien und Rumänien unmöglich machte; ob bei einem »Besuch in Akademgorodok«, bei dem er – es war 1969 – »gewaltig die Ohren spitzte« und nach intensiven und vertrauensvollen Gesprächen mit den dort arbeitenden Koryphäen der sowjetischen Naturwissenschaft über »Automatisierung und Wissenschaft«, über eine »auf gegenseitigem Nutzen beruhende wissenschaftlich-technische und kulturelle Zusammenarbeit« und über »Reisefreiheit« und »Freiheit des Informations- und Ideenaustausches« in seinem Notizbuch über die Gründung dieses Wissenschaftlerstädtchens festhielt, daß sie »entweder … der größte Fehler des Regimes«
gewesen sein müsse »oder eine großartige Leistung prophetischer Weitsicht«; oder ob – schließlich – als Augenzeuge von Beratungen des Untersuchungsausschusses zum Iran/Contra-Komplex im Senatsgebäude zu Washington im Juli 1987, bei dem er »am dritten Tag« einen »Dialog« erlebte, der »schaudern ließ«.
Warum? Im Detail liest es sich so: Der Zeuge Oberstleutnant Oliver North, durch Immunität gesichert, habe »mit kaum verhohlenem Stolz« berichtet, »Dokumente vernichtet und Beweisfälschung vorgenommen« zu haben, und sich auf die Frage, ob er sich der Unrechtmäßigkeit seines Handelns bewußt gewesen sei, wiederholt zu unbedingtem Gehorsam gegenüber Befehlen bekannt. Daraufhin sei vom Ausschußvorsitzenden Daniel Inouye, einem demokratischen Senator aus Hawai, mahnend bemerkt worden, die »Pflicht zum Ungehorsam, wenn Befehle ungesetzlich sind«, hätte »in Nürnberg internationalisiert werden« sollen. Dies aber habe den Anwalt des Oliver North »brüllend auffahren« lassen, »man solle seinen Klienten nicht beleidigen, der Senator möge lieber den landesweiten Sympathiebekundungen für North Beachtung schenken.«
Das nun sei – so geht die Schilderung weiter – »der Gipfel« gewesen. »North’ Anwalt muß gewußt haben, welcher Art die meisten Sympathieerklärungen waren, die die Telefonzentrale im Kongreß blockierten: rassistische Beschimpfungen Inouyes wegen seiner japanischen Abstammung, des Senatsanwalts, weil er Jude war, und feixendes Lob für Oliver North, weil er den Kongreß auf die Hörner nahm. … Ein trauriges Schauspiel. Die geplante Verfassungslektion via Fernsehen schlug fehl.«
Fast dreißig Jahre Korrespondentenleben hatte er bei diesem ihn nachhaltig erschütternden Erlebnis bereits hinter sich: Dr. phil. Ulrich Schiller, Jahrgang 1926, mit siebzehn Soldat bei der Luftwaffe geworden, von 1945 bis 1949 in Kriegsgefangenschaft, dann Studium der Slawistik, seit 1956 Journalist, von 1960 bis 1966 für die ARD in Belgrad, von 1966 bis 1970 in Moskau, von 1970 bis 1973 Chefredakteur bei Radio Bremen und schließlich – von 1973 bis 1989 – für den ARD-Hörfunk und noch länger – bis 1996 – auch für Die Zeit in Washington.
Nun hat er einen Rückblick auf diese Jahre vorgelegt, und der ist zum einen wirklich das, was der Klappentext verheißt: ein »Plädoyer für eine neue Weltordnung auf der Basis des Völkerrechts«. Aber er ist auch noch etwas anderes: Er ist ein Hohelied auf souveränen, couragierten Journalismus und auf eine Art des Reflektierens, die das Vergleichen nicht scheut, sondern sucht – und also die Welt wirklich in ihren Zusammenhängen und Wechselwirkungen erfaßt und nicht nur in jeweils gewünschten schwarzen oder weißen Ausschnitten. Und weil Schiller zu alledem eine sichere und elegante Feder führt, ist dieser Rückblick schließlich auch noch etwas Drittes geworden: ein – hier sei dem Klappentext ein weiteres Mal die Ehre erwiesen – »spannender Report«, ein »realer Politthriller«.
Macht außer Kontrolle heißt das Buch, und Schiller eröffnet es mit dem Eingeständnis eines Erschreckens, das es ihm am Ende wohl überhaupt erst ermöglicht hat, zu jener Reife von Urteil und Schlußfolgerung zu gelangen, wie wir es nun vor uns haben. »Nach dem Ende des Kalten Krieges«, schreibt er, »als wichtige Archive, zumal im Osten, geöffnet wurden«, sei ihm »mit Bedrückung klargeworden«, daß er in seinem langen, doch eigentlich der Wahrheit verpflichteten Berufsleben »nicht nur einmal …, die Wahrheit kaum ahnend, im Abseits der Unwissenheit gestanden hatte«. Und zwar nicht nur er allein, sondern: »die Zunft«. Denn: »Geheimhaltung hat es immer gegeben. Aber kaum je ist sie mehr zu einem Wahn, zu einem selbstmörderischen Zwang geworden als in den Zeiten des Kalten Krieges.«
Und so hat Schiller seine Erinnerungen und Aufzeichnungen mit einer gründlichen Recherche nun zugänglicher Dokumente unterfüttert und zeichnet ein beeindruckendes Panorama: zunächst von der kurzen Geschichte des Stalinschen Kominformbüros über die »Höllenkreise der serbisch-kroatischen Fehde« zum widerspruchsvollen Wirken Titos als »Totengräber seiner Schöpfung« – des jugoslawischen Vielvölkerstaates; dann vom »Zurück zu Stalin« der Breshnew-Ära mit den Kapiteln Prager Frühling und Das China-Syndrom bis zum »langsamen Tod« der Sowjetunion »durch Ersticken«; schließlich vom Kalten Krieg im Weißen Haus mit Kapiteln wie Watergate – eine neue Dimension, Vietnam-Traumata und Dominos im Hinterhof.
Die letzten drei Kapitel sind – bei aller Eleganz der Formulierungen – Aufschreie. Aufschreie der Sorge um den Kurs der heutigen USA und den Gang der amerikanischen Politik seit dem 11. September. »Der Kalte Krieg geht weiter – im Innern«, sieht sich Schiller gezwungen zu konstatieren. Mit »Instant« Haß ist ein Abschnitt überschrieben, mit Perversion der Justiz ein anderer, mit Staatsstreich in Florida – das gilt den Wahlen von 2002 – ein dritter. Zweimal künden Fragezeichen schon in den Titelzeilen von tiefen Zweifeln: Die Verfassung – nur noch Ikone?, und: Bushs Amerika: die Zukunft?
»Wir müssen«, schließt Schiller, »unbedingt und vor allem mit jenen Amerikanern im Gespräch bleiben, die weniger über die nächsten Kriege als über Wege zu neuem Einvernehmen im internationalen Recht, in Umwelt- und Friedensfragen nachdenken. Im Jahre 2000 war das noch die Hälfte der amerikanischen Wähler.«
Ulrich Schiller: Macht außer Kontrolle. Geheime Weltpolitik von Chruschtschow bis Bush, Aufbau Verlag Berlin 2003, 350 Seiten, 19,90 Euro
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