Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 15. März 2004, Heft 6

Der »Affe Goethes«?

von Kai Agthe

Das Gros dessen, was Literaturwissenschaftler über Jakob Lenz in den ersten einhundert Jahren nach seinem Tod schrieben, würde, wenn schon nicht im juristischen, so doch im moralischen Sinne den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllen. Das Verdienst, das Ansehen des Lyrikers, Dramatikers und Erzählers Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) hochgehalten zu haben, gebührte lange Zeit allein den nachfolgenden Dichtergenerationen. Georg Büchner etwa hat mit seiner fragmentarischen Erzählung Lenz (1839) die Erinnerung an den so unglücklichen Sturm und Drang-Autor nachhaltig bewahrt. Doch eine wirklich breite Wirkung konnten die Werke von Jakob Lenz erst nach dem Zweiten Weltkrieg entfalten.
Auch die wissenschaftliche (und heute so aktive) Lenz-Rezeption ist vor allem ein Resultat der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Goethes hinter Verniedlichungsfloskeln versteckte und gerade deshalb so abschätzige Äußerungen über den frühen Weggefährten in Dichtung und Wahrheit hatten die Germanisten des 19. Jahrhunderts nicht nur vorbehaltlos übernommen, sondern sogar zu übertreffen versucht. So meinte etwa Hermann Hettner in seltener Verkennung der Tatsachen, Lenz sei nichts anderes als der Affe Goethes. Wenn der von Ulrich Kaufmann im Studienband Wahlbruder Lenz ebenfalls zitierte Carl Bleibtreu dann 1887 Lenz »die jammervollste aller Literaturleichen« nennt, schwingt hier nicht nur Mitleid, sondern bereits der verhaltene Versuch mit, das unzutreffende Urteil zu revidieren.
Wie falsch die Auffassung der Goethe-Apologeten, wie blind die literaturwissenschaftliche Forschung des 19. Jahrhunderts war, konnte Ulrich Kaufmann bereits in seinem 1999 erschienenen Buch Lenz in Weimar aufzeigen, in dem der Jenaer Germanist Aufsätze zu Leben und Werk des Stürmers und Drängers veröffentlichte. Dieser Band war insofern ein gewinnbringender Beitrag zum Weimarer Kulturhauptstadtjahr, weil in dessen Verlauf zwar jedes zu Goethe geplante »Event« pflichtschuldigst abgearbeitet wurde, aber kein einziges der im Vorfeld vollmundig angekündigten Projekte zu J.M.R. Lenz umgesetzt wurde. Aber wenigstens erinnerte manches Kunstfest in Weimar an diesen so facettenreichen Autor. In Wahlbruder Lenz aufgenommene Rezensionen Kaufmanns belegen das schwarz auf weiß.
Bertolt Brecht war es, der 1950 mit seiner Inszenierung der Tragikomödie Der Hofmeister, dem er das seither sattsam bekannte lyrische ABC der deutschen Misere voranstellte, Lenz zu neuen Bühnen-Ehren verhalf. Eine gleichlautende Materialsammlung in Kaufmanns Buch legt dar, warum das Publikum Brechts Bearbeitung des Lenz-Stückes, die seinerzeit auch in Weimar zu sehen war, mit atemloser Spannung folgte.
In ihrer Korrespondenz haben Theodor Storm, der Autor des Schimmelreiter, und der aus Jena gebürtige Germanist Erich Schmidt, der Entdecker des Urfaust, auch den verkannten Dichter Lenz wiederholt thematisiert. Aber dessen gewichtiges Gedicht Die Liebe auf dem Lande (1775), in eine von ihm herausgegebene Lyrik-Anthologie aufzunehmen, konnte sich Storm, trotz nachdrücklichen Plädoyers von Erich Schmidt, nicht entschließen – was der Husumer später sehr bereute. Mit dem Beitrag über das Briefgespräch zwischen Storm und Schmidt hat Kaufmann dem noch unvollständigen Mosaik, das die Wirkungsgeschichte von Jakob Lenz darstellt, einen weiteren und überdies recht schillernden Stein hinzufügen können.
Eine Sammlung mit Porträtgedichten auf den aus dem Baltikum stammenden und in Moskau elend gestorbenen Dichter, die den Band Wahlbruder Lenz gehaltvoll abrundet, läßt klar erkennen, daß Jakob Lenz – dem zeit seines kurzen Lebens nichts so sehr die Treue hielt wie das Unglück – vor allem bei den Lyrikern des späten 20. Jahrhunderts ein ungeheures Echo zuteil wurde, das bis in die Gegenwart nachhallt. Der wohl bekannteste lyrische Text, der Lenz posthum zugeeignet wurde, Johannes Bobrowskis Gedicht Rede, daß ich dich sehe! (1963), wird denn auch von Ulrich Kaufmann einer tiefgründigen Analyse unterzogen. Jüngste produktive Auseinandersetzungen gingen von Volker Braun und Christoph Hein aus. Braun schuf im bewegten Nachwende- und Einheitsjahr 1990 ein deutlich zeitgeschichtlich und politisch akzentuiertes Pendant zu Lenzens berühmtem und weiland Charlotte von Stein gewidmetem Gedicht Abschied von Kochberg. Und erst vor zwei Jahren erlebte ein barock betiteltes Kammerspiel von Christoph Hein, in dessen Zentrum Lenz und Christian Daniel Friedrich Schubart stehen (die zwar Zeitgenossen waren, sich jedoch nie persönlich begegnet sind), in der Schweiz seine Uraufführung. Beiden Texten stellt Ulrich Kaufmann, der 1996 auch eine Lenz-Ausstellung initiierte, erhellende Interpretationen an die Seite. Mag Jakob Michael Reinhold Lenz außerhalb germanistischer Seminare auch kaum ein Thema sein, so ist der Studienband Wahlbruder Lenz dennoch eine wichtige Handreichung, weil er einen ebenso spannenden wie unterhaltsamen Zugang zu Lenz eröffnet. So wird dem Buch wohl die Rolle eines Geheimtips zukommen für alle Leser, denen Goethe allein nicht genug ist.

Ulrich Kaufmann: Wahlbruder Lenz. Eine Spurensuche von Theodor Storm bis Christoph Hein (Palmbaum Texte. Kulturgeschichte.) quartus-Verlag Bucha bei Jena 2003, 161 Seiten, 15 Euro