Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 29. März 2004, Heft 7

Augen des Gesetzes

von Renate Hoffmann

Rechtsufrig am Rhein. Auf den Höhen mit der seelenweitenden Fernschau. Weiter, weiter flußabwärts. Bis zum Plateau der Erpeler Ley. Wo 1909 die erste Fahrt eines lenkbaren Luftschiffes über den Rhein vonstatten ging. Wo man auf die Goldene Meile hinuntersieht; auf die zwei schwarzen Remagener Brückentürme ohne Brücke. Nun einfach landeinwärts, die Vulkankuppen des Siebengebirges im Blick. Gelesen hatte ich, da sei in einem größeren Waldgebiet eine Schutzhütte, und sie heiße Auge Gottes. Dieser Name erinnere an den hier vorzeiten angebrachten warnenden Hinweis für Wild- und Holzdiebe, das »dieben« zu unterlassen.
Wie warnt – oder gar verprellt man notorische Gesetzesbrecher? Welche nachhaltige Wirkung wohnt der Drohung aus dem Walde inne? Wäre wohl eine Übernahme in den Katalog kriminalpsychologischer Maßnahmen unserer Tage denkbar? Ich begebe mich auf den Weg. Er steigt nur allmählich an, läßt Muße, den Häher-Schrei zu hören; das Rascheln der Blätter, wenn sie der Wind bewegt. Zurückweichender Wald, der Sichten bis in den Dunst des Horizontes gewährt, wechselt mit herandrängendem, dichtem Baumbestand.
Mittendrin, an der Kreuzung mehrerer Wege und auf einem Verweilplatz postiert, blinkert das Auge Gottes. Meine vagen Vorstellungen von ihm erübrigen sich. Weder schaut es von der Schutzhütte noch aus dem Universum herunter. Es äugelt streng, die Strafe vorwegnehmend, von einem altarähnlichen Bildstock. Wer es noch halbwegs ungläubig mustert, wird zusätzlich durch eine Inschrift ermahnt: »Gottes Auge sieht alles.« Wollte man eventuell in Sünde fallen, so unterläßt man solches erschrocken. Ich mache mich schleunigst davon. Nicht ohne sichernd über die Schulter zu sehen. Dem Auge traue ich zu, mich mißtrauisch zu verfolgen.
Unter seinem Eindruck stehend, drängen sich Verwendungsmöglichkeiten auf. Anstelle der Geschwindigkeitskontrolleinrichtungen an den Straßen werden vorbeugend Warn-Augen eingesetzt. Umschrift: »Die Polizei sieht alles!« Äußert das Volk Unzufriedenheit mit seinen Verwaltungsorganen (deren Brotgeber es doch ist), so könnten Info-Augen helfen, den Unmut zu dämpfen. Aufschrift: »Die Regierung schläft nicht!« Diese Art Augen stünden zum Beispiel rund um den Berliner Reichstag und wären zugleich ein Schmuckelement.
Es bliebe nur zu prüfen, ob die neuartige »Äugelei« auch wirksam ist. Wird nämlich bei Tempoverstößen die vorgegebene Geschwindigkeit derart überschritten, daß der Überschreiter nicht mehr lesen kann, daß die Polizei alles sieht –, wären die Warn-Augen überflüssig. Wenn die überwältigende Mehrheit der Bürger – laut noch durchzuführender Umfrage – vom Tiefschlaf der Regierung überzeugt sein sollte, verfehlen auch die Info-Augen ihren Zweck.
Dann, ja dann müßte man nach anderen Einsatzmöglichkeiten suchen und das Auge Gottes belassen, was es ist: Ein Waldaltärchen mit Blick auf die ewigwandelbare Natur, der den Wanderer zum Innehalten und zur sinnenden Umschau einlädt.