In der DDR, aber auch unter gebildeten Westdeutschen – zumindest jenen, die ich Gelegenheit hatte kennenzulernen – galt es vor 1989 als allgemeines Bildungsgut, daß sowohl Widerstand gegen die Nazis als auch Mittun bei ihnen 1944 nicht unbedingt dasselbe gewesen waren wie 1933. Man wußte noch, daß das Weitererzählen eines anti-nationalsozialistischen Witzes 1933 in der Regel folgenlos geblieben war, während es 1944 den Kopf hatte kosten können.
Im Osten sprach man in diesem Zusammenhang – natürlich in weniger großen Öffentlichkeiten – auch darüber, daß in der DDR der Weg des Terrors in die umgekehrte Richtung zeigte: 1971 wurde kaum noch jemand wegen eines antikommunistischen Witzes ins Gefängnis gesperrt, während nach dem Mauerbau 1961 die Wahrscheinlichkeit, in die Mühlen auf der abgewandten Seite der »Diktatur des Proletariats« zu geraten, mehr als nur sehr hoch gewesen war.
Auch wußte man vor 1989 noch zwischen den »Maigefallenen«, also jenen zumeist bürgerlichen Überläufern aus dem Staatsapparat, den Medien und der Wirtschaft, die am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten, und jenen Abiturienten zu unterscheiden, die, oft ohne auch nur gefragt zu werden, von der HJ in die NSDAP überführt worden waren. Das war nicht viel anders gewesen als – später – der Übergang von den Thälmann-Pionieren zur FDJ. Nein sicher, man mußte nicht; aber es war für sie auch nicht wirklich wichtig – meistens war es keine Gewissensentscheidung.
Die hatten die jungen Männer oft ein wenig später zu treffen: an der Front, wenn Freiwillige zur Partisanenbekämpfung, die die Ausrottung der Zivilbevölkerung einschloß, gesucht wurden – mit und auch ohne NSDAP-Buch.
Wie er als Abiturient um eine NSDAP-Mitgliedschaft herumgekommen war, erklärte mir Mitte der achtziger Jahre einmal ein DDR-Journalist (Jahrgang 1925, Abiturjahrgang 1944, später Autor der Weltbühne): Sein als Anarchist bekannter Vater hatte beim Schulrektor gegen die Übernahme seines Sohnes in die NSDAP protestiert. Doch das war nun wirklich die absolute Ausnahme.
Nicht umsonst verfügte die Sowjetische Besatzungsmacht schon 1946 für alle als »Mitläufer« (NSDAP-Mitglieder der Kategorie IV) eingestuften Jugendlichen ab Jahrgang 1919 eine »Jugendamnestie« – in den westlichen Zonen war es ähnlich.
Nach dem 20. Juli 1944 hatten übrigens verstärkt Ältere einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt – nicht etwa weil sie plötzlich Nazis geworden waren, sondern in der Hoffnung, so den Hexensabbath des waidwunden Nazi-Regimes zu überleben.
All dieses Wissen gilt heute als überwunden, wie das Geeifere der – einst mit Fachleuten des SD der SS aufgebauten – Spiegel-Redaktion und ihrer von anspruchslosestem Faktenwissen unangekränkelten Nacheiferer unterstreicht. Was in Deutschland Ost wie West über Jahrzehnte fast jeder Nicht-Analphabet wußte, haben sie »vergessen«. Und delektieren sich an einem alten Mann, der nicht mehr die Kraft hat, ihnen einfach einen Vogel zu zeigen. Es geht um die öffentliche Hinrichtung einer der letzten moralischen Instanzen im Lande.
Eine besonders prachtvolle Rolle spielt dabei der Lohnschreiber Arno Widmann in der Berliner Zeitung, der verfügte, daß von Walter Jens nichts als dessen Nichterinnern bleiben werde. Man möchte lachen – doch der sich windende Magen besteht auf Liebermann.
Jörn Schütrumpf
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