von Jörn Schütrumpf
Das Ende des Krieges erlebten viele Deutsche als Opfer: ausgebombt, gefangen, verschleppt, entehrt, vergewaltigt, vertrieben, von den Angehörigen getrennt, von Hunger gepeinigt. Zehntausende – wahrscheinlicher sind Hunderttausende, wenn nicht gar über eine Million – fanden den Tod. Das Leid war so übermächtig, daß jegliches fremdes Leid dahinter verschwand. Nicht einmal der Dreißigjährige Krieg hatte so flächendeckend Mensch und Landschaft verheert.
Deutschlands Name stand bei Ende des Zweiten Weltkrieges synonym für Verbrechen. Nur an wenigen Orten der Welt wurde er ohne Haß gesprochen. Für schlechtes Gewissen hatten aber allenfalls die Jungen die Kraft. Die meisten Deutschen hingegen absorbierte der Überlebenskampf; später band der Aufbau ihre Kräfte – wie im Westen so im Osten. Weder ihr Verhalten in der NS-Zeit noch das ihnen bei Kriegsende und im Nachkrieg angetane Leid vermochten sie an sich heranzulassen. Zu groß wäre die Anstrengung gewesen, zu tief saß die Sehnsucht, in diesem Leben wenigstens noch ein klein Glück zu erfahren. Das Mißtrauen gegen saß tief. Zu bitter war die Erfahrung mit dem eigenen kurzzeitigen Glauben an die große Politik, den nach den Jahren von Weltkrieg I, Inflation und Weltwirtschaftskrise – die nur von sehr kurzen und für die meisten gar nicht so goldenen zwanziger Jahren unterbrochen gewesen waren – viele ausgerechnet unter den Nazis entwickelt hatten. Der Kalte Krieg, in dem beide Seiten »ihre Deutschen« plötzlich dringend benötigten, tat beim Vergessen ein übriges.
Doch es ist nichts vergessen, es wurde nur vergraben. Heute wird der Boden aufgebrochen, und es werden die Leiden und das Sterben der Kriegsgefangenen, die Traumata der Bomben-Opfer und die Qualen der Vertriebenen wieder ans Licht geholt. Die Büchse der Pandora, deren Deckel in all den Jahrzehnten Opfer- und Vertriebenenverbände stets einen Spalt angehoben hielten, öffnet sich erneut. Das alte Spiel soll von vorn beginnen. Vorerst gilt es »nur«, Polen und Tschechen auf die Knie zu zwingen.
Nationalismus ist ein Kind der Napoleonischen Kriege: Den isoliert dahinlebenden französischen Bauern hatten die Kriege der europäischen Reaktion gegen die Revolution von 1789 zum Heimatverteidiger werden lassen. Unter Napoleon war die Verteidigung in Expansion umgesprungen und hatte die zwischen Rhein und Moskwa Angegriffenen ebenfalls zu Patrioten gemacht. Mit der Folge, daß auf den Schlachtfeldern von Leipzig und Waterloo nicht nur die beiden Parteien verbluteten, sondern auch die Aufklärung. Nicht die während der Aufklärung gepredigte Menschenfreundlichkeit, sondern der Wahn besonderen nationalen Wertes hielt das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gefangen.
Waren in Frankreich noch Revolution und Nation ein Bündnis eingegangen, gelang es nach der Niederlage der 48er Revolution im restlichen Europa der feudalen Reaktion, das nationale Thema für sich zu nutzen und sich an die Spitze der Bewegung zu stellen – ein zweifellos gelungener Hegemoniewechsel. Immerhin hatten trotz allen bourbonischen Kostümfestes und Nationalismus’ Napoleons Imperialismus noch einige antifeudale Ideen der Französischen Revolution innegewohnt. Der Code civile war von seinen Bajonetten bis nach Warschau und auf den Balkan getragen worden – langfristig gesehen sogar irreversibel. Zu spät hatte Napoleon allerdings erkannt, daß man mit Bajonetten alles nur Erdenkliche machen kann, nur eines nicht: darauf sitzen.
Was nach dem Korsen kam, waren Reaktion und dynastisches Gemetzel – unter neuen Bedingungen: Nationalismus diente von nun an dazu, den verachteten, aber nicht zuletzt durch Frankreichs Vorbild zu ernsthafter Unruhe neigenden Plebs gefügig zu halten. In dieser Disziplin war Bismarck in Europa ohne Zweifel der Meister – Wilhelm II. allerdings nur sein Zauberlehrling statt sein Erbe. Der Erste Weltkrieg, den alle Seiten – wenngleich die deutsche mit ungeheurer Vehemenz – erstrebt hatten, wurde zum Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts. In diesem Krieg wurde eine Spirale der Barbarisierung in Gang gesetzt, die die folgenden dreißig Jahre prägte. Adolf Hitler war nicht nur ihr Produkt, sondern auch ihr konsequentester Ausdruck.
Die Deutschen befinden sich heute in einer wenig beneidenswerten Lage. Natürlich war vieles, was sie am Ende des Zweiten Weltkrieges und kurz danach zu erleiden hatten, ein Verbrechen, allem voran die Vertreibungen, denen die – von den Nazis durchgeführten – »Umsiedlungen« vorangegangen waren. Daß die westlichen Alliierten die neugezogenen politischen Grenzen ethnisch unumkehrbar zu machen suchten, erklärt sich natürlich nicht nur als Reaktion auf Hitlers Irredenda-Politik, sondern auch als ein Zugeständnis an Stalins »Nationalitätenpolitik« und an den durch Hitler geschürten Nationalismus der Völker Ostmitteleuropas – keineswegs nur in Polen und in der Tschechoslowakei.
Die Vertreibungen waren keine Strafe für besonders nazifreundliches Verhalten. Die Deutschen im Böhmen und Mähren hatten nicht mehr gejubelt als ihre Nachbarn in Bayern, im Vogtland oder in Sachsen – von den Österreichern zu schweigen. Die Schlesier nicht mehr als die Deutschen in der Lausitz, die Neumärker nicht mehr als die Märker westlich der Oder, die Ostpreußen, Westpreußen und Hinterpommern nicht mehr als die Vorpommern. Wenn, dann hätte es also heißen müssen: ganz Deutschland polnisch und tschechisch. Aber darum ging es natürlich nicht. Die Schwächsten zahlten Hitlers Zeche.
Nationalismus ist das Morphium der Nationen, Nationalstolz und Patriotismus sind oft schon die Einstiegsdrogen. In Deutschland wurde die Dosis an Nationalismus schon vor dem Ersten Weltkrieg ständig erhöht, die Nationalsozialisten haben dann zur Überdosis gegriffen – die die deutsche Nation nur überlebte, weil sie 1945 von außen auf Totalentzug gesetzt wurde. Ahnen der Obervertriebenen Erika Steinbach haben einst für Hitler und die vielen kleinen Hitlers das ihnen günstigste Klima geschaffen. Heute sind Leute wie Frau Steinbach und in ihrem Schatten ein mächtiges Männerkorps bemüht, mit der Vertriebenengedenkdebatte neuerlich das Kokain des Nationalismus – Linie um Linie – in der Gesellschaft auszulegen.
Trotz allen im Fernsehen erkennbaren Ausmaßes der vorhandenen Intelligenz – von Kultur wollen wir in diesem Zusammenhang nicht reden –, ist es schwer zu glauben, daß sie nicht wüßten, was sie tun: Von Nationalismus kann ein Süchtiger nicht geheilt werden; die kleinste Prise setzt die Drogenkarriere erneut in Gang. Den Nationalismus bei unseren Nachbarn haben – sicherlich mit Schützenhilfe Rußlands – auch die Deutschen verursacht. Wir Deutschen von heute haben kein Recht, diesen Nachbarn ihre Verbrechen vorzuhalten. Sich über deren Nationalismus zu beschweren, zeigt nicht nur die eigene Verlogenheit, sondern auch die eigene Erbärmlichkeit. Dieses Faß aufzumachen, wie es Peter Glotz zur Zeit mit Hilfe von Bild tut, mag gewinnträchtig sein, politisch ist es nicht nur verantwortungslos – es ist mies.
Es gibt Verletzungen und Schädigungen, die lassen sich nicht gutmachen – in der Liebe genauso wie zwischen Nationen. Bestenfalls läßt sich mit viel Überwindung ein Schlußstrich ziehen und ein Neuanfang wagen. Auch wenn es nicht neu ist, sei hier wiederholt: Zeitgeschichte ist Geschichte, die noch dampft. Die deutschen Revanchistenverbände sind wild entschlossen, die Vertreibungsverbrechen nicht aus der Zeitgeschichte zu entlassen. (Bei Verbrechen gibt es für die Nichtverjährung nur eine Ausnahme: den vorsätzlichen Versuch, massenhaft Menschen zu vernichten. Das ist Geschichte, die nicht vergehen kann. Bei noch so viel Sophistik lassen sich die industriemäßige Ausrottung von Menschen jüdischer Herkunft nicht mit den Vertreibungen gleichsetzen.)
Von uns Nachgeborenen ist das »Nie wieder« der deutschen Nachkriegszeit oftmals als etwas überpathetisch belächelt worden. Die Weisheit dieser Botschaft – auch wenn sie ein wenig vom Wunsch gespeist gewesen sein mag, sich aus der Verantwortung herauszustehlen – machen uns von Tag zu Tag mehr die deutschen Revanchistenverbände klar. »Nie wieder Krieg« bedeutete einst auch »Nie wieder Nationalismus«. Dieser Zusammenhang wird heute systematisch zerstört.
Die Legitimierung heutiger Forderungen mit historischen Ereignissen, soweit es sich nicht um geplanten Massenmord handelt, kann zwischen Nationen nur neuerliche Vergiftung bewirken – und damit Nationalismus auf beiden Seiten. Deutschland benötigt nichts weniger als eine solche Debatte – gut täte hingegen dieser Gesellschaft eine Nationalsozialismus-Debatte. Doch eben die wird von den Machtgruppen so gefürchtet, wie der Teufel das Weihwasser verabscheut. Denn hier würde – endlich – die Rolle der heute immer noch übermächtigen Eliten an der Seite der Nationalsozialisten zu Sprache kommen.
Und was macht die Linke? Das, was sie am besten kann: Sie schläft den Schlaf der Gerechten, weil sie ohnehin stets recht hat. In dieses Vakuum ist seit einiger Zeit die antideutsche Bewegung – nachdem die Marxistische Gruppe wegen erwiesener Erfolglosigkeit aus dem Rennen genommen wurde, ein Lieblingskind des Verfassungsschutzes und anderer Dienste – gestoßen und verblödet jenen Teil der akademischen Jugend, bei dem die Gefahr besteht, er könnte sich emanzipatorischen Ideen zuwenden.
Zum Schluß ein persönliches Wort: Ich weiß sehr genau um die Leiden und um die Trauer der Opfer. Ein Teil meiner eigenen Familie ist ab 1940 in Europa brutal herumgeschubst worden.
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