Des Blättchens 6. Jahrgang (VI), Berlin, 29. September 2003, Heft 20

Ultralinks?

von Jörn Schütrumpf

Jüngst beklagte sich ein Leser, das Blättchen sei auf ultralinke Positionen gerückt, und blieb uns auch den Maßstab seines Urteils nicht schuldig: Der Kritik an der PDS sei es zuviel; das Maß sei überschritten und damit voll.
Auch wenn das Blättchen als Produkt vieler Autorinnen und Autoren keine einheitlichen Maßstäbe bieten kann (und will!), habe ich doch – wie andere Menschen auch – eigene Maßstäbe, an denen ich Politik messe. Maßstäbe, die nicht unwesentlich beeinflußt werden von den Umständen, unter denen wir leben:
Wir erleben in Deutschland im Moment einen sozialen Krieg von oben, der als »Modernisierung« daherkommt und den sich in dieser Offenheit nicht einmal die Nazifaschisten gewagt haben. Mehr als zweihundert Jahre gesellschaftlicher Entwicklung, einst durch die Revolution der Franzosen von 1789 eröffnet, sollen an ihr Ende geführt werden. Diese Revolution bewirkte zweierlei: Sie sprengte für Europa sowohl den Weg für die kapitalistische Produktionsweise als auch zu einer Gesellschaft frei, die Einfluß auf den Staat errang und zugleich ein Gegengewicht zur Durchkapitalisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens schuf. Kapitalismus war bisher – selbst in den USA – selten reine Herrschaft des Kapitals. Das war vor allem das Verdienst der Arbeiterbewegung in ihrer verschiedenen Gestalt und – zeitweise noch wirkungsvoller – des Sozialismus sowjetischer Prägung. Der Letztere ist unterdessen verschwunden, die erstere leidet an Auszehrung.
Technologisch steht die Menschheit heute an der Schwelle zum »goldenen Zeitalter«: Der Mensch tritt aus der Produktion heraus – programmiert, regelt, überwacht, wartet –, wird also endlich befreit von jenem Typ Arbeit, der über Jahrtausende als Fron erlebt wurde. Immer weniger Menschen sind notwendig, einen nie gekannten Reichtum zu produzieren. Die Industriearbeiterschaft, früher Kern des Widerstands, wird um- und abgeschmolzen. Die Gesellschaft hat sich »individualisiert«; die sozialen Lagen haben sich ausdifferenziert; solidarischer Widerstand auf dieser Grundlage wird immer schwieriger.
Doch die neu gewonnene Freiheit gebiert einen Alptraum: Die Wohlfahrt der Gesellschaft schwindet, statt allumfassend zu werden. Waren kapitalistische Produktionsweise und politisch – zumindest teilweise – emanzipierte Gesellschaft bisher in einem spannungsreichen, ringkampfähnlichen Verhältnis miteinander verbunden und auf einander angewiesen, hat die Produktionsweise unterdessen begonnen, sich von der Gesellschaft abzulösen.
Der neue Hochkapitalismus benötigt immer weniger Gesellschaft. Am elendsten ist die Welt schon heute nicht mehr dort, wo die kapitalistische Produktionsweise herrscht, sondern in jenen Regionen, die für die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse überflüssig erscheinen: in großen Teilen Afrikas. Anders als früher prognostiziert, erobert die kapitalistische Produktionsweise nicht ständig immer weitere Teile der Erde, sondern schließt durch den Umbruch der Technologien immer größere Teile der Welt aus. Das Wort »parasitär« hat einen ganz neuen Klang erhalten. Auch über den »sterbenden Kapitalismus« wird die Linke neu nachdenken müssen.
Die Neoliberalen und in ihrem Fahrwasser wichtige Teile der Sozialdemokratie haben das schon getan und sich für eine Erhaltung dieses Kapitalismus entschieden. Die »große Politik« in den Staaten der Ersten Welt dreht sich heute vor allem um die Frage, welche nationale oder regionale Gesellschaft künftig in welchem Grade mit der kapitalistischen Produktionsweise wird verbunden sein dürfen, oder anders gefragt: welche Gesellschaft die Profitmaximierung am wenigsten stören wird? Es ist kein Zufall, daß die sogenannten gemäßigten Parteien einander ständig ähnlicher werden. Sie sind von Tag zu Tag weniger Interessenvertreter sozialer Gruppierungen. Statt dessen konkurrieren sie darum, am effektivsten die Interessen des großen Kapitals durchzusetzen. Effektiv meint hier nicht nur am brutalsten, sondern auch ohne nennenswerten gesellschaftlichen Widerstand zu erzeugen. In diesem Kampf hat im Moment die Sozialdemokratie ganz ohne Zweifel die größeren Chancen. Für die Gesellschaft verliert dieses Parteiensystem an Relevanz; mit dem Grundgesetz hat das nur noch wenig zu tun.
Der Sozialstaat wird fürs 21. Jahrhundert fit gemacht – gemeint ist ein Jahrhundert des Kapitals. Dazu werden am lebendigen Leibe zwei Experimente unternommen: Wieviel Gesellschaft läßt sich »sozialverträglich« aus der Gesellschaft ausscheiden? Und: Wann wird der Punkt erreicht, an dem der vorsorglich im Ausbau befindliche Repressionsstaat eingesetzt werden muß?
Der soziale Krieg wird im übrigen nicht nur gegen die nicht mehr benötigten Arbeitsfähigen, gegen die sozial schwachen Kranken und zunehmend gegen die Rentner geführt, auch wenn das zweifellos wichtige Schlachten sind. Das strategische Ziel ist der »Speck« der Gesellschaft, und der sitzt im westdeutschen Mittelstand. Hier werden die entscheidenden Schlachten geschlagen werden. Die große Umverteilung von unten nach oben ist nicht zu Ende, sie hat erst angefangen. Was aber hat das alles mit der Partei des Demokratischen Sozialismus zu tun? Nichts. Und das ist das Problem.