von Jörn Schütrumpf
Es ist wie in einer Schmiere: Weil in Partei und Gewerkschaft einige nicht vergessen können, daß beide ursprünglich einmal Klassenkampforganisationen gewesen sind, gerät der Kanzler in Bedrängnis. Der entscheidet sich daraufhin für einen ganz ungewöhnlichen Kniff: Er greift zur Wahrheit und gestattet seinem Finanzminister, ausnahmsweise einmal mit ungeschönten Zahlen zu operieren, ja, sie möglichst noch schlechter zu reden, als sie in Wirklichkeit schon sind. Schließlich hat er gerade keinen (Bundestags-)Wahlkampf, sondern einen von der »Basis« erzwungenen SPD-Parteitag vor der Tür. Wenn ein Politiker nicht mehr umhin kann, sich mit der Wahrheit aus der Affäre zu retten, spielt er mit höchstem Einsatz. So hoch pokert sonst nie einer aus diesem Fach. Das gibt es nur auf Vorstadtbühnen.
Schröder – der Underdog – muß viel Demütigungen erfahren haben; anders ist kaum zu erklären, daß er bereit ist, für die Anerkennung durch die wirklich Mächtigen beinahe alles zu unternehmen. Spätestens im Wahlkampf 2002 hat er begriffen, daß er einst den falschen Karriereweg einschlug: Wirklich Mächtige stellen sich nicht der Wahl; das haben nur arme Teufel nötig.
Doch es geht nicht nur um Minderwertigkeitskomplexe von Aufsteigern, in denen es nach finaler Kompensation giert. Die Einflußreichen in den beiden großen Parteien sind des Bonner Systems leid: Jahrzehntelang haben sie sich abwechselnd, manchmal sogar gleichzeitig, von der FDP erpressen lassen. Rechte und rechtsradikale Parteien kamen zwar dank der Aufmerksamkeit des nationalistischen CDU-Flügels, der die CSU stets inkorporierte, nie zu bundespolitischer Bedeutung, während die SPD auf ihrem Feld einmal versagte: Nach 1980 wuchs mit den Grünen ein zweiter – exklusiv die SPD quälender – Zwerg heran, mit dem in jüngster Zeit allerdings auch masochistisch veranlagte CDU-Lokalpolitiker zu liebäugeln scheinen. Und nach 1990 quäkte von der Linken auch noch die PDS dazwischen, deren bundespolitische Zukunft seit 2002 aber als beendet gilt.
Heute reden in Pausengesprächen Politiker von SPD und CDU offen von ihrem gemeinsamen Traum: 2006 die Grünen, 2010 die FDP aus dem Bundestag zu verdrängen – notfalls auch umgekehrt, da sind sie nicht so. Es ist der Traum von Amerika: 40 Prozent Wahlbeteiligung, die Armen schauen frustriert in die Röhre, zwei Parteien machen sich abwechselnd das Land zur Beute; zuvor muß natürlich das Wahlsystem entsprechend »angepaßt« werden. Dieser neue Staat benötigt keine Sozialpolitik – ohne die im 20. Jahrhundert selbst die Nazis nicht auskamen. Hier geht es um den vorbismarckschen Klassenstaat – in amerikanischer Ausprägung, gewiß.
Natürlich läßt Gerhard Schröder seinen Finanzminister nicht die Wahrheit sagen, auch wenn die Zahlen dieses Mal nicht zusammengelogen sein sollten. Es wird gedichtet wie eh und je. Lieblingserzählung von Unternehmern und des verhinderten Mächtigen Kanzler Schröder samt Franz Müntefering, Hans Eichel und anderen Möchtegerns: Die Höhe der Lohnnebenkosten mache Deutschland unfähig, mit der Globalisierung – was auch immer damit gemeint sei – zurechtzukommen. Die unverschämt hohen Lohnnebenkosten machten das Wachstum kaputt; deshalb müsse der Sozialstaat »zurückgeschnitten« werden. In Wirklichkeit sind dank des Anstiegs der Arbeitsproduktivität und erhöhter Arbeitsintensität – also gestiegener Arbeitshetze – in den vergangenen zwei Jahrzehnten nur in Japan die Lohnstückkosten, die die Lohnnebenkosten ja enthalten, noch langsamer gestiegen als in Deutschland.
Nicht zuletzt deshalb war Deutschland 2002 erneut Exportweltmeister. Die Exportüberschüsse betrugen 83,3 Milliarden Euro. Auch das Gestöhne über die hohen Steuern, die alles zerstörten, in das Guido Westerwelle auf dem FDP-Parteitag gerade wieder einfiel, hat einen ebenso hohen Wahrheitsgehalt: Im Vergleich der Industrieländer liegt die reale Steuerquote – also der Anteil der zu zahlenden Steuern am Bruttoinlandprodukt – in Deutschland mit knapp über zwanzig Prozent im unteren Drittel.
Schröders Taktik zur Sozialstaatsvernichtung scheint trotzdem zu funktionieren: Auf der rechtsradikalen Seite rührt sich nichts – Berlin ist nicht Weimar, jedenfalls bisher nicht. Statt dessen schießt die CDU in den Umfragen an die Fünfzig-Prozent-Marke heran – das Zweiparteiensystem funktioniert, die Wähler verhalten sich vorauseilend systemkonform.
Die Grünen sind nur dank ihres Außenministers bisher nicht abgestürzt – aber den zieht’s nach Brüssel. Und der Gewinn der FDP besteht darin, daß sie sich halten kann – mehr nicht. Wäre da noch die PDS – doch auf jemandem, der am Boden liegt, soll man nicht herumtreten; dies kann ohnehin niemand so gut wie die Genossen selbst.
Vor zwanzig Jahren kämpfte Margaret Thatcher die britischen Gewerkschaften auf PDS-Bedeutung nieder; nun droht in Deutschland den Gewerkschaften das gleiche. Deren Vorsitzender Michael Sommer erinnert in letzter Zeit ein wenig an den jungen Carl Legien, den ersten Chef der deutschen Gewerkschaften. Der galt als Klassenkämpfer; das war jedoch vor über hundert Jahren, nach dem Fall des Sozialistengesetzes. Nach dem Fall der Mauer und vor dem Fall des Sozialstaats droht Sommer jetzt, in den selben Ruf zu geraten. Trotz der Kompradoren in seinen eigenen Reihen sucht er sich zu wehren. Der Politologe aus dem Apparat bildet heute den Linksaußen in der deutschen Politik. Weit ist es gekommen.
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