Des Blättchens 6. Jahrgang (VI), Berlin, 31. März 2003, Heft 7

Asozialität, gesellschaftsfähig

von Jörn Schütrumpf

Nach dem 11. September erbat sich Gerhard Schröder der Deutschen Zustimmung zu einem Feldzug gegen Osama Bin Laden mit dem Hinweis, nur so eine menschenfreundliche Sozialpolitik fortführen zu können; heute wirbt er für einen Feldzug gegen den Sozialstaat mit dem Versprechen, dann weiter den Frieden lieben zu wollen. Der Mann ist ein Profi. Kein deutscher Berufsmäßiger hat sich je so treu an Adenauers Lebensmaxime »Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern« gehalten wie er.
Obwohl Frau Merkel behauptet, viel grausamere Grausamkeiten begehen zu wollen, wenn sie nur dürfte, wonach ihr der Sinn stehe, würde im Moment eine Mehrheit der Wahlinteressierten die Ex-FDJ-Sekretärin und ihre Parteifeinde mit einem Kreuz auszeichnen, während sie den Amtierenden lieber an selbiges genagelt sähe. In der Linken wird dieser Befund gern als Beleg für die eigene analytische Kraft vorgezeigt: Schaut her, wie dumm doch das Volk ist und wie klug wir, die wir das erkannt haben!
Das »dumme Volk« weiß zwar nicht, was gestern in der Zeitung stand – erst recht nicht, was in sogenannten linken Zeitungen stand – und hat damit auch nur selten etwas verpaßt; aber es hat ein kollektives Gedächtnis. Außerdem pflegt es kollektiv Verdächtigungen. Beispielsweise unterstellte es jahrzehntelang, daß, wenn überhaupt jemand im kapitalistischen Deutschland Krieg als Mittel der Politik anwenden wolle, es die Partei Adenauers sei, während sich die deutsche Sozialdemokratie dem Verdacht ausgesetzt sah, des Landes Wohlstand verjubeln zu wollen. Unterdessen sind diese Unterstellungen Wissen gewichen: Den Krieg hat die Sozialdemokratie zurück in die deutsche Politik geholt; während trotz gegenteiliger Beteuerungen Adenauers Enkel alles in allem den Sozialstaat hegten und die Staatsfinanzen zuschanden gehen ließen. Ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat sich die Erfahrung: Unter Kohl war es am Ende zwar langweilig, doch der Neoliberalismus war nur einer der Phrase, während die Sozialdemokratie einem Neoliberalismus der Tat – verbrämt durch die Simulation zusammengebissener Zähne – huldigt, und es im Lande von Tag zu Tag aufregender wird. Das »Volk« glaubt seit Gerhard Schröder und Helmut Kohl eines begriffen zu haben: In der Innenpolitik tun Politiker stets das Gegenteil dessen, was ihnen ihre Pressesprecher in die Reden schreiben. Solange Angela Merkel nicht dem Fehler verfällt, den Sozialstaat erhalten zu wollen, werden ihre Umfragewerte also weiter steigen.
Natürlich ist der deutsche Sozialstaat marode. Sein Kernstück, die Rentenversorgung, beruht auf einer Annahme, die sich schon vor Jahrzehnten blamierte: Kinder werden sie immer haben, meinte der Alte aus Rhöndorf 1957 und gewann mit dem sogenannten Generationenvertrag die absolute Mehrheit. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Deutschen wurden in den vergangenen 45 Jahren nicht nur ständig weniger (wenn auch in den Körpermaßen größer), sondern auch älter. Den dadurch verursachten Finanzbedarf können die Einnahmen aus »unselbständiger Arbeit« – gemeint ist Lohnarbeit – natürlich nicht decken. In anderen Staaten, die sich einen ähnlich komfortablen Sozialstaat wie die Deutschen leisten, ist das nicht anders, Beispiel Schweiz: Dort würde aber niemand auf die Idee verfallen, Sozialabgaben nur bei »unselbständig Arbeitenden« einzutreiben, da werden auch andere Einnahmen – neben »selbständiger Arbeit« auch Gewinne – zur Finanzierung des Sozialstaates herangezogen. In Deutschland undenkbar. Hier gilt sogar eine »Beitragsbemessungsgrenze«, die das Einkommen Besserverdienender zu einem erquicklichen Teil von Sozialabgaben freistellt. In der Schweiz würde man die Finanzierung des Sozialstaates nach deutschem Muster für eine ausgemachte Asozialität halten, in Deutschland hingegen gilt sie als Errungenschaft und ihre Verteidigung als gesellschaftsfähig.
Statt die Einnahmeseite zu stärken, wird wie in einem kurz vor dem Konkurs stehenden Krämerladen lieber ein wenig an den Ausgaben gespart – auf Kosten der Schwächsten und ohne jede Aussicht auf Wachstum. Bei Lichte besehen haben wir es mit einer großen Koalition aller im Bundestag vertretenen Parteien gegen die »unselbständig Arbeitenden« zu tun, PDS inklusive. Als 1999 deren Theoretiker forderten, aus diesem »Konsens der Demokraten« auszuscheren, wurden sie zurückgepfiffen.
Nach dem Vorbild des Weltsozialforums in Porto Alegre sind in den vergangenen Monaten ein Europäisches Sozialforum und ein Deutsches Sozialforum entstanden, zu dem jüngst ein Berliner Sozialforum hinzugetreten ist. Auf dessen Gründungsversammlung wurde auf das Pikante der Berliner Situation verwiesen: Hier leide man nicht nur unter Rot-Grün, sondern auch unter Rot-Rot. Die Berliner ständen einem neoliberalen Linksblock gegenüber, der von Gerhard Schröder über Joseph Fischer bis zu Harald Wolf reiche. Es sei höchste Zeit für eine Neuauflage der Außerparlamentarischen Opposition.