von Jörn Schütrumpf
Aus der Postmappe: »Da entblödet sich doch ein gewisser André Herzberg auf Seite 29 Ihrer jüngsten Nummer 22 nicht, in einer sogenannten ›Würdigung‹ des diesjährigen Literatur-Nobelpreisträgers sein Verständnis mitzuteilen, daß Kertész über seine Deportation als Kind nach Auschwitz erst spät schreiben konnte – schließlich habe er bei seinem Einzug in die Kasernen der NVA auch so ein Trauma erlitten.
Das reicht. Bisher gab es in Deutschland ein Tabu. Auschwitz ist mit NICHTS vergleichbar. Dem ›Blättchen‹ ist es gelungen, dieses Tabu zu durchbrechen und damit den Nobelpreisträger auf das Schimpflichste zu beleidigen. Hoffentlich erfährt er nichts davon.
Ich jedenfalls werde meiner Bahnhofsbuchhandlung empfehlen, ab sofort das ›Blättchen‹ ganz vorn zu präsentieren, dort, wo die Masse der Verherrlichungsbände für Hitlers Armeen auf Käufer wartet.
Und vergessen Sie nicht, in Zukunft ein kleines Hakenkreuz auf Ihr Titelblatt zu drucken.«
Das liest sich, als stamme es aus der Gralsburg der politischen Korrektheit – im Inhalt, mehr noch im Ton (»NICHTS«), der seit 1990 dem Osten stets aufs Neue das Verharren auf der Stufe des Unterzivilisierten bedeutet. Jedoch: Es ist ganz anders, wir haben hier ein schönes Beispiel für ein gelungenes Ankommen in der Berliner Republik; der Absender wohnt in Sachsen-Anhalt und hat nach eigenen Angaben die Nationale Volksarmee kennengelernt – ist also auch kein aus dem richtigen Deutschland in die blühenden Landschaften Zugewanderter.
Zuerst war ich wütend, habe dann aber gelassen die Ausführungen in die Endablage gesenkt, mich Tage später eines Besseren besonnen, das Blatt hervorgekramt, glatt gestrichen – um doch zu antworten –, und beginne mit Herzbergs Frevelei: »Wenn Sie ertragen können, wie Auschwitz wirklich war, sollten Sie dieses Buch lesen. Als ich mit 19 Jahren zur NVA eingezogen wurde, hatte ich ein ähnliches Gefühl, auch wenn ich mich kaum getraue, diese Harmlosigkeit mit der Erfahrung des Schriftstellers in irgendeine Beziehung zu setzen.« Vergleicht er? An welcher Stelle? André Herzberg berichtet – verschämt (»auch wenn ich mich kaum getraue«) – von einer Assoziation. Kertész’ Auschwitz-Buch habe bei ihm ein Gefühl in Erinnerung gerufen, dessen er sich am Ausgang der Pubertät ausgesetzt sah, ein Gefühl, dessen sich viele noch erinnern können, soweit sie die Ehre hatten, in den Reihen der Nationalen Volksarmee, dem Gesetz oder – Schafsköpfe wie ich – der freien Entscheidung folgend, wertvolle Jugendzeit zu vertun.
Das Widerlichste waren gar nicht die glasigen Augen und zitternden Hände meines Leutnants des Morgens um halb acht (bis um halb neun der erste Goldbrand wirkte und das Zittern merklich nachließ), auch nicht die Schikanen der Unteroffiziere in Dienst und Freizeit – das Widerlichste war die »Selbstverwaltung« auf den Zimmern, war, wie die Neuen von denen, die ein Jahr zuvor malträtiert worden waren, nun ein halbes Jahr lang gedemütigt, ausgebeutet, mitunter auch gequält wurden. Und wie die Offiziere und Unteroffiziere nicht nur wegschauten, sondern heimlich guthießen – leichter ließ sich nicht regieren.
Unterdessen haben zwar einige der Herren (Genossen?) Offiziere und Generäle a.D. der Armee des Friedens (was sie zweifellos war) ihre Memoiren verfaßt. Darüber, wie es in der Armee außerhalb des sogenannten Dienstes zuging, findet man aber bei ihnen nichts. Nur dem Gefreiten der Reserve Herzberg (unterdessen: »Gedient in fremden Heeren«) ist noch einmal der Kaffee hochgekommen, und er hat es nicht für sich behalten können. Kann Literatur mehr erreichen?
Auschwitz ist selbstverständlich vergleichbar – auch wenn das Herzberg gar nicht getan hat. Ausrottungen hat es stets gegeben: Wahllos herausgegriffen seien die mongolische Eroberung, die Auslöschung der meisten Ureinwohner in den USA, die Versklavung Afrikas, die durch die Große Pforte betriebenen Gräuel an den Armeniern, der GULag, die Kulturrevolution und Pol Pot. Wie soll denn die Singularität der industriellen Menschenvernichtung durch Schädlingsbekämpfungsmittel und an-schließende Einäscherung begriffen werden ohne den Vergleich?
Doch der ist – wie geruhen der Herr Assimilant so schön zu formulieren: »in Deutschland« – abgeschafft. Schließlich hatte auch der Westen etwas von der Wende im Osten (neben den zusätzlichen 1,5 Millionen Arbeitsplätzen, die die Zerstörung der DDR-Industrie bescherte; aber über die reden wir hier nicht): Vergleich bedeutet – Goethe verzeih, nicht minder Grimm und Grimm – im Land der Dichter und Denker neuerdings Gleichsetzung.
Nach dem Sieg im kalten Krieg ist auf dem Zwei-Diktaturen-Vergleich so lange herumgeritten worden, bis auch der letzte Feuilletonleser begriffen hatte, daß hier gar nicht der Vergleich, sondern die Gleichsetzung in Rede stand: »Auschwitz« hie, »Auschwitz der Seelen« da, und beides eins. Seitdem ist, wer in Deutschland vergleicht, ein Gleichsetzender. Frau Justizministerin Däubler-Gmelin glaubte, das gelte nur für Deutsche mit dem falschen Lebensmittelpunkt. Doch dem Gift der verlogenen Sprache kann sich niemand entziehen; es sei denn, er nennt Gift Gift.
Man muß nicht das Glück gehabt haben, Schüler der beiden großen Leipziger Komparatisten des 20. Jahrhunderts, der Revolutionshistoriker Walter Markov und Manfred Kossok, gewesen zu sein, um zu wissen, daß der Vergleich immer noch die zuverlässigste Methode darstellt, das Besondere eines Sachverhalts herauszuarbeiten. Beide lehrten – in Anknüpfung an eine alte Wissenschaftstradition –, den Vergleich als Quelle der Bestimmung zu begreifen. Beider gedenke ich jeden Tag mehr, obwohl ich sie schon zu ihren Lebzeiten sehr schätzte.
Vergleichen kann man alles. Sinnvoll wird der Vergleich natürlich erst dann, wenn Schnittmengen zwischen den Gegenständen des Vergleichs vorhanden sind, man das Gemeinsame und das Differente und so das Besondere des einzelnen erkennt. Vereinigt sich in einer Erscheinung eine besonders große Zahl an Merkmalen, die einer historischen Periode eigen sind (die man selbstverständlich zuvor – durch den Vergleich – herausgefiltert haben muß), darf sie klassisch genannt werden.
Auschwitz war klassisch. Hier hat der Kapitalismus in seiner deutschen Ausprägung erstmals die in ihm angelegten Tendenzen, höchste Rationalität der Organisation und grausamste Irrationalität der Vernichtung, im Exzeß verwoben. Man kann es auch zitierbarer (und mit Bloch) sagen: Auschwitz hat den deutschen Kapitalismus zur Kenntlichkeit verändert.
Das zuzugeben, gilt »in Deutschland« indes als unfein. Deshalb hat sich die Verdrängungsgemeinschaft auf die Konsensformel »Auschwitz ist mit NICHTS vergleichbar« verständigt. Sie garantiert den deutschen Eliten den Freispruch – alle, die weggeschaut haben, eingeschlossen.
Im übrigen stellen die Sätze »Bisher gab es in Deutschland ein Tabu. Auschwitz ist mit NICHTS vergleichbar« eine doppelte Wahrheitswidrigkeit dar. Zum einen: Sie wurden nur in einem Teil Deutschlands internalisiert – in jenem, in dem die Eliten, die die Nazizeit möglich machten, auch danach das Sagen hatten: Großindustrielle, Bankiers, Großagrarier, Militärs, Richter, Staatsanwälte, andere Beamte etc. Für den Osten suche ich denjenigen, der folgende Aussage widerlegen kann: Trotz aller Unsäglichkeiten, die in der frühen DDR Menschen jüdischer Abkunft, die die Verfolgung im NS-Faschismus überlebt hatten, widerfuhren – ein Satz wie »Auschwitz ist mit NICHTS vergleichbar« kam nicht vor. Dieses Mal ohne alle Ironie: Es war nicht alles schlecht. Wenigstens diese Beleidigung des Intellekts blieb uns erspart.
Zum anderen: In den Nachkriegsjahren galt, um noch einmal den Brief aus Sachsen-Anhalt zu zitieren, »in Deutschland« keineswegs »Auschwitz ist mit NICHTS vergleichbar.« Da galt: Auschwitz ist kein Thema, ist nicht unser Thema. Auschwitz waren die »Nazis«, und die gab es bekanntlich nach der Mitläufer-Fabrikation der durch den kalten Krieg flink die Front wechselnden Westalliierten nicht mehr. Erst nach dem Auschwitz-Prozeß (1963) und der Studentenbewegung, die weiteres Verschweigen von Auschwitz unmöglich gemacht hatten, wurde der Rettungsanker »Auschwitz ist mit NICHTS vergleichbar« gegossen.
Ich beglückwünsche unseren ehemaligen Leser aus Sachsen-Anhalt zur Ankunft »in Deutschland«. Dank Auschwitz.
PS. Der oben zitierte »gewisse« André Herzberg ist nicht nur einer jener legendären Rockmusiker Ostdeutschlands (Pankow), die schon in der DDR mutiger als die meisten ihrer Mitbürger gewesen sind, er ist auch Kind rassisch verfolgter Eltern, die im englischen Exil überlebten, während andere Familienangehörige in Auschwitz und anderswo ermordet wurden. Aber egal! In Deutschland erklären die Goim den Juden, wie sie gefälligst Auschwitz zu sehen haben; schließlich können sie den Juden Auschwitz nicht verzeihen (Henryk M. Broder).
PPS. Imre Kertész lebt im Moment als Gast des Wissenschaftskollegs in Berlin. Wir werden ihm die Texte zugänglich machen.
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