Des Blättchens 5. Jahrgang (V), Berlin, 14. Oktober 2002, Heft 21

Demokratischer Sozialismus

von Jörn Schütrumpf

Im zerfallenen Ostblock konvertierten die gestürzten »Bruderparteien« – nach Auflösung und Neugründung oder Spaltung – entweder zur Sozialdemokratie oder beharrten, in zum Teil beträchtlichen Restbeständen, auf den Positionen ihrer Herrschaftszeit. Beides war der entmachteten Partei in der DDR verwehrt: Der Platz der Sozialdemokratie war besetzt; ein Anschluß übertrittswilliger SED-Funktionäre und –Mitglieder scheiterte am Widerstand wenig sozialdemokratisch gestimmter Absolventen der theologischen Fakultäten. Und einem »Weiter so« mit kommunistischem Gruß drohte der aufgeheizte Zorn der Straße. Deshalb beschritt die deutsche Partei einen Sonderweg. Demokratischer Sozialismus, wenige Jahre zuvor noch als besonders gräßliche und gefährliche Spielart imperialistischer Diversion stigmatisiert und bekämpft, bot sich als Rettungsanker an, um zu verhindern, daß das Schiff hinaus auf Meer treibe und dort versinke.
Gysi, Bisky und anderen Quereinsteigern aus der intellektuellen Szene der DDR mochte man glauben, daß sie wüßten, wovon sie sprechen, wenn sie das Wort vom demokratischen Sozialismus im Munde führten. Vielen anderen Aktivisten war das neue Logo nicht so wichtig. Daß demokratischer Sozialismus eine der geistig-politischen Grundrichtungen unserer Zeit ist, drang kaum in ihr Bewußtsein; in dieser Hinsicht sind sie ohne alle Einschränkungen Bestandteil der organisierten deutschen Linken, ob sie sich nun auf Marx oder das Neue Testament berufen.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist deren Denken fixiert auf die beiden linken geistig-politischen Grundrichtungen, die es im Europa des 20. Jahrhunderts zu Massenorganisationen, Regierungsbeteiligung beziehungsweise Alleinherrschaft brachten: auf die sozialdemokratische und die kommunistische. Beide sind in ihrem Politikverständnis auf den Staat fixiert, beide wollen mit Hilfe des Staates die Gesellschaft für die Unterdrückten und Beladenen bessern, beide konnten durch die Schlichtheit ihrer Konzepte sich mindestens zeitweilig Massenzulauf erarbeiten.
Die Sozialdemokratie setzt bis heute auf den Parlamentarismus, auf Mehrheiten im Wahlvolk – und lernt nach jeder Regierungsübernahme erneut, daß sie höchstens mildern, aber nicht grundlegend bessern kann (eine Erfahrung, die unterdessen die Grünen verinnerlicht haben, während sie viele demokratische Sozialisten noch nicht wahrhaben wollen). Die kommunistische Richtung, geboren aus den Schrecknissen des Ersten Weltkriegs und dem Ekel vor dem sozialdemokratischen Marsch ins Politik-Establishment, sah im Parlament bestenfalls ein Mittel auf dem Weg zur Alleinherrschaft, mit deren Hilfe sie der Mehrheit ihre Weltverbesserungen verordnet. Letztlich haben beide den Weg in eine solidarisch organisierte Gesellschaft – frei von Ausbeutung und Unterdrückung – verfehlt.
Doch die Sozialdemokratie ist in vielen europäischen Staaten als wesentlicher Faktor übriggeblieben; sie lastet wie ein Alp auf den Hirnen der Linken. Daß nicht zuletzt in ihr und in Auseinandersetzung mit ihr eine Richtung wuchs und Substanz anreicherte, die nicht ihr Heil allein in Regierungsbeteiligungen sucht, ist selbst einstigen, heute frustrierten Aktivisten des demokratischen Sozialismus kaum noch bewußt.
In diese Richtung ist vieles eingeflossen: die Erkenntnis Immanuel Kants von der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen; Karl Marx’ Diktum von der Freiheit des einzelnen als der Bedingung für die Freiheit aller ebenso wie seine Kapitalanalyse; Gustav Landauers und Erich Mühsams ethische Begründung eines freiheitlichen Sozialismus; Ernst Blochs Verständnis von Utopie als das Noch-Nicht-Seiende, aber in der Gesellschaft schon Angelegte; Antonio Gramscis Überlegungen zur Hegemonie in der Gesellschaft als Voraussetzung für nachhaltige Humanisierung der Gesellschaft; die Vorstellungen über Wirtschaftsdemokratie seit Fritz Naphtali; Bürgerbeteiligung, wie sie in Form der Participation in einigen Städten und Regionen Brasilien heute schon praktiziert wird. Die Reihe ließe sich fortsetzen mit Rosa Luxemburg, Paul Levi, Tucholsky, Abendroth, Havemann, Bahro und vielen vielen anderen. Alle haben sich auf ihre Weise an dem Problem abgearbeitet, wie eine Politik möglich wird, die nicht vom bestehenden System eingefangen werden kann und den Weg in eine Gesellschaft öffnet, in der sich Gleichheit, Freiheit und Solidarität nicht gegenseitig ausschließen.
Eine allgemeine Lehre, zusammengerührt aus drei Quellen und drei Bestandteilen, gibt es nicht. Demokratischer Sozialismus ist der Bruch mit den schlichten Formeln und Gewißheiten. (Marx sprach zum Beispiel nie davon, daß es ausschließlich die wirtschaftlichen Verhältnisse seien, die das Handeln der Menschen antreiben, sondern daß sie lediglich in letzter Instanz die Gesellschaft strukturieren. Einige sogenannte Marxisten argumentieren aber bis heute mit der ersten Aussage.) Demokratischer Sozialismus ist anstrengend – und keineswegs das Einfache, das nur schwer zu machen sei; er ist Arbeit statt Agitation und Kungelei.
Was existiert, sind Grundsätze, die zu verletzen stets mit Unwirksamkeit bestraft wird: Solidarität mit den Schwachen (die Starken helfen sich allein); ständige ungeschminkte Analyse dessen, was ist und was wird sowie Mut zur Reflexion des eigenen Denkens und Tuns; Kampf um gesellschaftliche Mehrheiten statt ausschließlich um parlamentarische (so wichtig sie auch sind); Aufspüren und Verstärken von Bewegung, Unruhe, Kreativität und – nicht zuletzt – von Widerstand; und nicht zu geringsten: Abschied von der Borniertheit, anderen in der Einsicht in den Gang der Dinge voraus zu sein (selbst wenn man es für einen Moment lang mal ist).
In der Partei der demokratischen Sozialisten schien der demokratische Sozialismus erstmals eine nennenswerte organisatorische Heimat gefunden zu haben. Doch viele Verantwortliche begriffen weder dies noch gar die damit verbundene Chance – zum Schaden beider.