Des Blättchens 5. Jahrgang (V), Berlin, 16. September 2002, Heft 19

Morgen kommt Mehl

von Erhard Crome

In den Buckower Elegien – Bertolt Brechts Versuch, den 17. Juni 1953 zu verarbeiten – findet sich auch das Gedicht Die Wahrheit einigt. Dort heißt es : »Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit / und sagtet sie! / Nicht wie fliehende müde Cäsaren: Morgen kommt / Mehl! / So wie Lenin: Morgen abend / Sind wir verloren, wenn nicht …«
Es war fein ausgedacht, das Wahlkonzept der PDS. Gysi als Wirtschaftssenator und Bürgermeister von Berlin: der lebendige Beweis für die Fähigkeit der PDS, ernsthaft Politik zu machen. Nun ist er abhanden gekommen, wegen miles and more. Tatsächlich deshalb? Oder hatte er nur keine Lust zu langweiliger Verwaltungsarbeit, wie ein Teil der bürgerlichen Presse wähnte? Und wenn doch, warum hat er die Bild/FDP-Intrige nicht ausgesessen ? Wer hat eigentlich seine Abrechnung gemacht? Doch wohl nicht er selbst ? Und ist nicht eigentlich die Gattin geflogen? Ist das ein Grund, so zu verschwinden? Gleichwohl, jetzt ist er wandernder Wahlkämpfer mit gewohntem Witz. Wenn’s hilft …
Nach den Befunden der Stimmungs-Institute ist bei der PDS der Anteil der Unentschlossenen und tendenziell abstinenten Stammwähler derzeit am höchsten, bei der CDU am niedrigsten – die wollen endlich wieder ran! – und bei SPD/Grün dazwischen. Das Wahlergebnis des 22. Septembers wird vor allem auch ein Mobilisierungsergebnis sein.
Die gleiche Großpresse meint, die Zurückhaltung der PDS-Wähler hänge mit dem Gysi-Rücktritt zusammen, sie empfänden diesen als »Verrat«. Das ist nicht belegt, nur Vermutung. Vielleicht ist ja auch alles ganz anders. Beratungsresistente Großpolitiker setzten auf die etatistische Karte und verlangten zugleich von der eigenen Klientel, doch »Vertrauen« zu haben. Für frühere Besucher preiswerter öffentlicher Bäder in Berlin, die mittlerweile geschlossen sind, klingt das wie Hohn. Wenn schon keine Verteilungsspielräume waren, wegen der CDU/SPD-bewirkten Ausschlachtung des Berliner Steueraufkommens per Bankgesellschaft, warum nicht wenigstens ein anderer Stil?
In Brasilien, in Porto Alegre, ist vor einiger Zeit der »Partizipative Haushalt« erfunden worden, die öffentliche Debatte der gewählten Volksvertreter mit den Bürgern über die Prioritäten bei der Verteilung des zur Verfügung stehenden Haushaltes. Das ist in Berlin nicht gemacht worden. Statt dessen hinter verschlossenen Türen die Streichungsrunden und die Risiko-Absicherung der Bankgesellschaft, die nach wie vor nicht ernsthaft begründet ist. So erscheint manchem gesellschaftskritischen Wähler die PDS in Berlin als Transmissionsriemen der neoliberalen Strategie.  Alternativen sind ja nicht kommuniziert worden.
Aus dem herrlichen Plan, aus dem Wahlergebnis für die PDS zur Abgeordnetenhauswahl in Berlin eine Steilvorlage für die Bundestagswahl zu machen, ist nichts geworden. Und nun? Das Konzept eines »demokratischen Sozialismus« in Deutschland war von Anfang an ein zartes Pflänzlein, historisch Unerhörtes. Die anderen Parteien wollten dies von Anfang an nicht, und die »richtig Linken«, die Kommunisten und so weiter, die lieber die reine Sekte wollen und sich einen Dreck um demokratische Mehrheiten scheren, auch nicht. Etliche Akteure der PDS, die seit 1990 schier Unmögliches vollbracht haben, um »demokratischen Sozialismus« wahl- und politikfähig zu machen, hantieren jetzt hilflos herum, verfolgen das vorherige Konzept und haben sich nicht auf die veränderte Lage eingestellt. Die Stimmen fehlen wohl vor allem in Berlin. Der Verweis auf die veränderte Wahlkreiseinteilung greift nicht. Die ist seit Jahren bekannt, und die Konrad-Adenauer-Stiftung hat das alles bereits vor Monaten genüßlich ausgezählt: daß auch die Variante mit den mindestens drei Direktmandaten in diesem Jahr nicht sicher aufgeht.
Wenn aber die PDS jetzt nicht in den Bundestag kommt, waren ihre Anstrengungen der vergangenen Jahre umsonst, und die politischen Alternativen zur gemachten Politik schwinden. »Freunde, ein kräftiges Eingeständnis / Und ein kräftiges WENN NICHT!«, heißt es bei Brecht weiter. Das hieße jetzt: Genossen, wenn wir jetzt scheitern, sind wir für lange Zeit gescheitert! Wir wissen noch immer nicht, was demokratischer Sozialismus langfristig heißt. Wenn wir weiter im Bundestag sind, können wir gemeinsam darüber streiten , mit Aussicht auf politische Ansätze. Wenn nicht, sind auch all unsere Programm-Debatten für die Katz.
Das müßte aber jemand den Mitgliedern und Sympathisanten sagen. Es geht um alles, nicht müde: »Morgen kommt Mehl!«, sondern: »Morgen abend sind wir verloren, wenn nicht … « Das wäre das Wahlkampfkonzept für die letzten Phase. »Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit, und sagtet sie!«