von Ulrike Steglich
„Abartig“, nennt Berlins neuer Finanzsenator Thilo Sarrazin die Zahlen, die er jüngst zum Berliner Haushalt 2002/2003 vorlegte. Dem ist wenig hinzuzufügen: Das Defizit zwischen Einnahmen und Ausgaben beträgt derzeit zwei Milliarden Euro pro Jahr. Die diesjährige Neuverschuldung zur Finanzierung des Haushalts steigt auf 6,3 Milliarden Euro, statt, wie bislang erwartet, auf 3,6 Milliarden Euro. Insgesamt wird sich der Berliner Schuldenberg von jetzt 39 Milliarden Euro bis 2006 auf 56 Milliarden Euro erhöhen. Das heißt auch, daß sämtliche Haushaltspläne der letzten Jahre geschönt waren: Einnahmen wurden zu hoch kalkuliert, Ausgaben zu niedrig angesetzt, Risiken verschleiert. Berlin hat sich jahrelang buchstäblich in die Tasche lügen lassen.
Doch schon ein paar Tage vor Sarrazins Horrorzahlen konnte einem bei der Lektüre des Spiegel speiübel werden. Das Magazin berichtete, daß infolge des Skandals der Berliner Bankgesellschaft auf das Land Berlin noch weit höhere Forderungen zukommen werden als bislang bekannt: Das Gesamtrisiko liegt bei zirka dreißig Milliarden, Berlin wird, so Sarrazin, jährlich dreihundert Millionen Euro dafür bereitstellen müssen – und das zehn bis fünfzehn Jahre lang. Hintergrund sind die Immobilienfonds der zu 81 Prozent landeseigenen Bankgesellschaft. Obwohl schon 1995 in Berlin jeder wissen konnte, daß sämtliche Wachstumserwartungen für Berlin – Bevölkerungszahlen, angeblich zusätzlich benötigte Wohnungen und Büroflächen – drastisch nach unten korrigiert werden mußten, legte die Bankgesellschaft über fünfzig Fonds für Objekte vor allem im Osten auf. Investoren wurden völlig unrealistische Mieteinnahmen garantiert, als überall der Leerstand sichtbar zu- statt abnahm, Anleger mit Steuervorteilen gelockt. Die Risiken jedoch wurden allein beim Land Berlin abgeladen. Und bei fast allen Fonds gibt es erhebliche Mietausfälle. Die bezahlt nun – Berlin.
Man kann es auch ganz schlicht sagen: Sehenden Auges und wider besseren Wissens um die reale Lage, hat eine Handvoll Banker und Politiker der Großen Koalition unter den Augen derselben jahrelang die Stadt regelrecht und hemmungslos verzockt. Der Witz dabei ist, daß diejenigen, die den Ossis am vehementesten die Marktwirtschaft predigten – wie der CDU-Strippenzieher und Banker Landowsky – selbst die simpelsten Mechanismen des Marktes wie beispielsweise Angebot und Nachfrage ignorierten. Eine Art privater CDU-Kommunismus: privatisierte Gewinne, vergesellschaftete Verluste.
Berücksichtigt man noch die frisierten Haushaltspläne, gibt es nur ein Fazit: Innerhalb von zehn Jahren hat die Große Koalition die Stadt auf Jahre und Jahrzehnte hinaus ruiniert. In solchem Tempo hat das nicht mal die DDR geschafft.
Man sollte meinen, ein veritabler Aufschrei sei nach dem Spiegel-Bericht durch die Berliner Medien gegangen. Doch nur die taz widmete sich dem Thema engagiert. Die anderen schwiegen sich über den Anteil des Bankenskandals am Gesamtdesaster und über dessen Ursachen weitgehend aus und arbeiteten sich lieber noch ein bißchen am so furchtbaren neuen Senat ab – in Berlin geht es eben selten logisch zu. In einem Kommentar einer „Hauptstadtzeitung“ war zu lesen, die jetzige rot-rote Koalition benutze die Horrorzahlen bloß, um ihre Sparpläne besser durchpeitschen zu können und sich hernach an den Ärmsten auslassen zu können. Für solche krausen Artikel gibt es nur eine Erklärung: Die, die so schreiben, sind selbst Teil des Westberliner Filzes und haben das Ihre dazu beigetragen, das System Diepgen/Landowsky am Leben zu halten. Die Trauer um den Verlust des netten, beschaulichen, durchsubventionierten Westberlins mag menschlich nachvollziehbar sein; aber Journalismus ist das nicht, und ehrlich ist es auch nicht.
Dreißig Milliarden Euro Risiken. 56 Milliarden Euro Schulden im Jahr 2006. Allein die Zinsen betragen dann jährlich 3,1 Milliarden Euro. Es ist unmöglich, sich solche Summen vorzustellen. Aber angesichts solcher Summen müssen auch die derzeitigen Sparpläne verändert werden. Und hier zeigt sich ein Dilemma: Denn die Posten, die am meisten zu Buche schlagen, sind kaum zu korrigieren. Die Verwaltung ist immer noch aufgebläht, doch sie gibt – schon durch die Pensionsansprüche von Beamten – auch bei Personalabbau bislang wenig an Einsparungen her. Der zweite große Posten ist die überteuerte Wohnungsbauförderung mit sehr langfristigen Darlehen aus seligen Westberliner Zeiten, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Der dritte dicke Posten ist der Bankenskandal – auch hier ist das Rad nicht zurückzudrehen. Aber auch die nach der Wende aufgelegten Entwicklungsgebiete dürften zu Buche schlagen, nur ist hier aufgrund vertraglicher Bindungen offenbar ebenfalls wenig zu sparen, geschweige denn, die ausgegebenen Gelder zurückzuholen. Man sollte Stadtführungen durch Investruinen anbieten.
Doch das Problem hat auch psychologische Konsequenzen. Denn wenn an den großen Posten, die das meiste Geld verschlingen, nicht gespart werden kann, trifft es wieder: Schulen, Bäder, Sozialhilfeempfänger (darunter auch sehr viele Kinder oder alleinerziehende Mütter), Kitas. Das ist nicht die Schuld der neuen Koalition – jedenfalls nicht der neuen roten Hälfte. Nur ist es kaum mehr zu vermitteln, wie mühsam hier und da an Sümmchen weiter zusammengekürzt wird, angesichts dieser monströsen Zahlen. Und es wird noch weniger moralisch zu vermitteln sein, daß – mit Verlaub – der stinknormale Steuerzahler, der seine Kinder zu redlichen Bürgern (und Steuerzahlern) zu erziehen versucht, diesen irgendwann einmal erklären muß, daß sie die Zeche für frühere politische Hütchenspieler zu zahlen haben, die noch dazu saftige Abfindungen kassierten oder auch einen gutdotierten Platz im Bundestag ergatterten.
Wenn das das Ergebnis nach zehn Jahren Großer Koalition mit all ihren Marktwirtschaftsexperten ist – und das ist das Ergebnis –, was soll da mit den Kommunisten eigentlich noch schlimmer kommen können?
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