Des Blättchens 5. Jahrgang (IV), Berlin, 7. Januar 2002, Heft 1

Fahrenheit 451

von Erhard Crome

Fahrenheit 451, das sind 232 Grad Celsius, der Hitzegrad, bei dem Bücherpapier Feuer fängt und verbrennt. Und es ist der Titel eines Buches des amerikanischen Altmeisters der Science Fiction, Ray Bradbury, aus dem Jahre 1953. Die Welt, die beschrieben wird, ist eine, in der es keine Bücher mehr gibt. Bücher sind verboten. Wer bei jemandem welche sieht, ist verpflichtet, dies zur Anzeige zu bringen. Dann kommt die Feuerwehr, die nicht mehr Brände zu löschen hat, weil die Häuser längst feuerfest sind, sondern die Büchervernichtung zu vollziehen. Die beschlagnahmten Bände werden aufgehäufelt, möglichst auf der Straße, damit es alle sehen, dann mit Kerosin begossen und verbrannt.
Es begann damit, daß die Zeit gerafft wurde. Bücher wurden gekürzt, Abriß, Überblick, Zusammenfassung, das Beste in Bildern. Entscheidend ist die überraschende Pointe. Klassiker wurden zu viertelstündigen Hörspielen, das Buch auf eine zwölfzeilige Inhaltsangabe zusammengestrichen. Das Karussell der Bestseller drehte sich immer schneller; aber zugleich sollte niemand dem anderen überlegen sein, intellektuell, wo doch alle gleich sind. Also wurden die Bücher verboten. Für das Glück reicht, Bildergeschichten zu lesen, Lebensbeichten oder Publikumszeitschriften zu Fachthemen, etwa: wie installiere ich am besten meine Fernsehanlage. Das Ideal ist der großflächige Fernsehbildschirm, der die ganze Wandfläche einnimmt, möglichst, nach entsprechendem Ansparen, an allen vier Wänden, dann ist das Fernsehen dreidimensional, man selbst mittendrin. Gesendet werden Unterhaltungssendungen und Sport. Das reicht. »Ein Buch im Haus nebenan ist wie ein scharfgeladenes Gewehr. Man vernichte es«, sagt Feuerwehrhauptmann Beatty, »Wer weiß, wen sich der Belesene als Zielscheibe aussuchen könnte!«
Den Feuerwehrhauptmann läßt Bradbury auch sagen, wie es dazu kam. Es kam durch den Zusammenhang von Markt, Technik, Massenkultur und Minderheitendruck. »Nehmen wir jetzt die Minderheiten unseres Kulturlebens dran. Je größer die Bevölkerung, um so mehr Minderheiten. Sieh dich vor, daß du den Hundefreunden nicht zu nahe trittst, oder den Katzenfreunden, den Ärzten, Juristen, Kaufleuten, Geschäftsleitern, den Mormonen, Baptisten, Quäkern, den eingebürgerten Chinesen, Schweden, Italienern, Deutschen, Iren, den Bürgern von Texas oder Brooklyn, von Oregon oder Mexiko. Die Gestalten in diesem Stück, diesem Fortsetzungsroman sind frei erfunden; jede Ähnlichkeit mit lebenden Malern, Kartographen, Mechanikern ist reiner Zufall. Je größer der Markt, um so weniger darf man sich auf umstrittene Fragen einlassen! Auch die mindeste Minderheit muß geschont werden. Schriftsteller, voller boshafter Einfälle, schließt eure Schreibmaschinen ab! Und das taten sie denn auch. Die Zeitschriften brachten allerliebsten süßen Kitsch. Nur die Bildergeschichten ließ eine Leserschaft, die auf ihrem Geschmack bestand, gnädig am Leben. Und die dreidimensionalen Schönheitsmagazine.«
Bei der Ausdehnung des Kulturlebens kann keine Beunruhigung geduldet werden. »Sag selber, was ist unser aller Lebensziel? Die Menschen wollen doch glücklich sein, nicht? Ich will glücklich sein, sagt ein jeder. Und ist er es nicht? Sorgen wir nicht ständig für Unterhaltung und Betrieb? Dazu sind wir doch da.« Man richtet sich »nach dem niedrigsten gemeinsamen Nenner«.
Dem entspricht das Schulwesen. »Weniger Schule, der Lernzwang gelockert, keine Philosophie mehr, keine Geschichte, keine Sprachen. Der muttersprachliche Unterricht vernachlässigt, schließlich fast ganz aufgehoben. Das Leben drängt. Wozu etwas lernen, wenn es genügt, auf den Knopf zu drücken?«
Soweit Bradbury. Als wäre das Buch gestern geschrieben. Dargestellt ist natürlich nur das Leben der »kleinen Leute« in dieser schönen neuen Welt. Er hat sie geahnt, wir können sie jetzt mit Händen greifen. Zwanzig Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung werden in diesem Jahrhundert ausreichen, um die Weltwirtschaft am Laufen zu halten, hat Jeremy Rifkin 1995 gemeint. Deren Qualifikation wird schon anderweitig gesichert werden. Für den Rest ist »Tittytainment« angesagt, setzte Brzezinski in jener Gesprächsrunde über die künftige Entwicklung hinzu. Dies sei eine Kombination von »entertainment« und »tits«, dem amerikanischen Slangwort für Busen. Dabei denkt er weniger an Sex als daran, daß eine Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Mindestversorgung die frustrierte Bevölkerung bei Laune halten müsse. Da ist sie, die Welt von »Fahrenheit 451«.
Es gibt keinen Grund, in Deutschland wegen der Ergebnisse der Pisa-Studie Trübsal zu blasen. Wir sind nur schon etwas weiter auf diesem Wege als andere.