von Max Hagebök
Es ist die Hochzeit der Jahresrückblenden gekommen. In den Medien tummeln sich die Analysten und bekennen sich zum wissenden Nachgang. Wie bei einer Weinlese wird der Jahrgang der Ereignisse abgefüllt, etikettiert und verstöpselt.
Schon am 1. Januar 2002 werden die Konserven in das Regal des Vergessens gestellt. Kein Mensch wird sich in vier Wochen an die klugen Worte und die falschen Einschätzungen erinnern. Die diskutierten Ereignisse werden vermischt mit denen der Jahre davor. Ein gefährliches Gemisch von Halbwissen und Geglaubtem wird zum öffentlichen Bewußtsein erhoben, und daraus wird die Sicht der Dinge abgeleitet. Auf dieser Bühne des Politischen können sich die Demagogen und Scharlatane der Parteien, Verbände und Institutionen darstellen und sich des guten Gewissens der Masse bedienen. Immer zum Selbstzweck der Akteure. Es gilt der geglaubte Moment.
Das kollektive Kurzzeitgedächtnis verdrängt die Erinnerung und damit die Fähigkeit zur kollektiven Kontrolle. Wesentlich bleibt bei der Wertung von Politik die emotionale Darstellung des jeweiligen Ereignisses. Damit wird 2001 in die politische Kultur der Bundesrepublik als weiterer Schritt zur Irrationalität von politischen Entscheidungen eingehen. Der einzelne wird sich im Dickicht der innen-, geo- und wirtschaftlichen Interessen mit seinem Wertekompaß durchwursteln. Die vielschichtigen Ebenen der Politik sind wie Schlingpflanzen für den um Rationalität ringenden Verstand. Moderne Politikvermittlung kommuniziert Emotion und Realitätsausschnitte als einheitliche Botschaft.
Unter der SPD-Grünen-Regierung ist die Emotionalisierung von Politik zu einer nie gekannten Reife geführt worden. Schon im Balkankrieg gelang es der Regierungselite, die sachlichen Informationen hinter einem Vorhang von Emotionen zu verbergen. Der Krieg wurde zum Glaubensfeldzug. Das gleiche Schema wird jetzt im „Kampf gegen den Terrorismus“ benutzt. Ängstlich bemühen die Kommunikatoren des Krieges das Prinzip Gut und Böse, um die wahren Interessen nicht diskutieren zu müssen. Und auf der Gegenseite stehen die Friedensbewegten und reden ähnlich diffus. Das Niveau der politischen Streitkultur hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Irrationalität versus Irrationalität. Statt einer klaren Analyse wird nach systemkonformen Konfliktlösungen gesucht. Auf die Idee, daß es diese möglicherweise ohne eine wesentlichere Veränderung der politischen Mechanismen nicht gibt, darauf will sich die Mehrheit der Friedensbewegten nicht einlassen.
An dieser Haltung zum Krieg wird exemplarisch gezeigt, daß politische Fragestellungen mit den herkömmlichen Mechanismen nicht mehr lösbar sind. In diesem Jahr ist die Transformation der Grünen und der Linken in der SPD eine Weiterführung des Verlustigmachens von stabilen politischen Paradigmen. Was scheinbar einen Lernprozeß symbolisiert, wandelt sich unter der Prämisse einer Wählerpartei zur neuen Beliebigkeit politischer Programme und Politik. Die Reaktionen in der Partei zeigen aber auch, daß die Grünen einen großen Schritt zur zweiten liberalen Partei in Deutschland gegangen sind. Die zentrale Kategorie der Grünen, die Ökologie, ist mit dieser Entwicklung ihres politischen Rahmens beraubt. Damit wird die ökologische Erneuerung zur Marginale.
Die von der Grünen bisher vertretenen Bürgerbewegungen sind immer weniger präsent. Die in diesen Formen vorgelagerten Politisierungen von Menschen zu einzelnen Themen verliert im öffentlichen Bewußtsein an Bedeutung. Die Trennung von professioneller Politikerarbeitung und vorpolitischen Gestaltungsräumen wird zunehmen. Der Einstieg in die Politik verläuft langfristig in den vorgegebenen institutionalisierten Strukturen und damit im Geflecht von Abhängigkeiten und Anpassungen. Das Aufbrechen von Politikmustern wird somit immer unwahrscheinlicher. Da die neuen Akteure ein Plagiat der alten sind, wird ihre Politik zum einfachen Spiegelbild der selbigen. Der eigene Stellenwert in der Organisation geht vor Programm und Wählerinteresse.
In dieser politischen Landschaft entsteht in Deutschland in der Politik eine neue Elite. Noch von Parteien getragen, verselbständigen sich in jeder Partei diese Eliten. Es sind die Verhandlungen zwischen diesen Eliten, die zur Politik erhoben werden. Der Bürger ist zunehmend ausgenommen. Als Maß der Politik hat er ausgedient.
Unorganisiert, zunehmend politisch entmündigt und irrationalen Erklärungsmustern ausgesetzt, kann er seiner korrektiven Aufgabe als Wähler immer weniger gerecht werden. Der Erfolg der Schill-Partei ist nur ein Beispiel.
Was bleibt von 2001? Der Bürger gewöhnt sich an seine politische Entmündigung und kompensiert dies mit Friedendemonstrationen und Einkäufen. Die Eliten gewöhnen sich an die Macht und an ihre Mediengeilheit. Die Politik verliert an Ansehen. Der Konflikt zwischen alten Lösungen der jeweiligen politischen Couleur und der Wirklichkeit bleibt.
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