Des Blättchens 4. Jahrgang (IV), Berlin, 15. Oktober 2001, Heft 21

Countdown

von Henry-Martin Klemt

Die Wahl von Afghanistan als Hauptfeind kommt nicht von ungefähr. Politische Verbündete haben die Taleban praktisch nicht. Ihr Regime ist mit allem überworfen, womit es sich überwerfen läßt. Die Zerstörung von Weltkulturerbe, die Verletzung der Menschenrechte, insbesondere von Frauen, der militante Antichristianismus führten dazu, daß sie im Grunde alle gegen sich haben.
Zweitens ist das Land ein ausgezeichneter Schauplatz nicht nur für den Nord-Süd-Krieg, sondern auch für den Stellvertreterkrieg Ost-West. Pakistan ist amerikanisch gebunden, aber religiös mit den Taleban verflochten. Indien lebt im Konflikt mit Pakistan und wird traditionell von Rußland unterstützt. Beide verfügen über taktische Kernwaffen außerhalb der Kontrolle durch NATO oder die Russische Föderation und über einen hinreichenden Irrationalismus, sie gegebenenfalls auch einzusetzen. Sie könnten folglich den Stellvertreter-Kriegsparteien die unangenehme Aufgabe des Ersteinsatzes von Atomwaffen abnehmen. Amerikaner und Russen, wenn sie daraufhin in ihre Arsenale griffen, wären »sauber«.
Drittens ist Afghanistan nicht besetzbar. Das ist ein Vorzug, weil Kreuzzügler keinen Blitzkrieg gebrauchen können. Sie wollen Zeit haben, ihr Drecksgeschäft zu betreiben. Die Berge Afghanistans versprechen den Kriegführenden reichlich davon – eine Erfahrung, die schon die Sowjetunion machte.
Deren Nachfolger haben – viertens – eine Rechnung zu begleichen, was sie vorderhand ebenfalls an den Westen bindet. Sie wollen mit Afghanistan/Tadshikistan weder den Fundamentalismus mit einem Fuß in ihrer Hintertür haben noch mit Afghanistan allein die Weltmacht USA davor. Sowohl Rußland als auch China sind bereit, sich in politischer, vielleicht auch militärischer Weise in dem Konflikt prowestlich zu engagieren, weil sie berechtigterweise fürchten, daß sie weltpolitisch in der Versenkung verschwinden, wenn sie dem Westen die Hegemonie bei diesem Kreuzzug überlassen. Sie müssen mitgehen, ob es ihnen paßt oder nicht. Natürlich ist das keine Allianz auf Dauer. Ihre Sollbruchstelle könnte die Konstellation Indien/Pakistan abgeben.
Im übrigen geht es weder um den fundamentalistischen Islam noch um bin Laden. Sie sind die nützlichen Verbrecher, die den Anlaß liefern, in die Offensive zu kommen bei einer Auseinandersetzung, die weltpolitisch ansteht. Da der Norden nicht im entferntesten daran denkt, seine Herrschaftsprivilegien aufzugeben – zu denen der Verbrauch von achtzig Prozent der Weltressourcen durch zwanzig Prozent der Erdbevölkerung und die Konzentration von mehr als neun Zehnteln des Reichtums bei fünf Prozent der Bevölkerung gehören – steht für den Süden die Frage, wie dem Aushungern ganzer Völker zu begegnen ist. Gegen die anschwellenden Migrationsströme haben alle Industrienationen bürokratische, juristische, polizeiliche und militärische Waffen geschmiedet. In offenen militärischen Auseinandersetzungen sind sie unüberwindbar (Golfkrieg). Es bleiben also Kriegsformen unterhalb der staatlichen Ebene wie die Intifada in Palästina oder eben Terroranschläge wie die in den USA. Schlicht gesagt: Das mittelalterliche Kampfmesser ist dem Computer überlegen, wenn es ihn trifft.
Tatsächlich sind Globalisierung – das heißt die Durchsetzung der ökonomischen und politischen Verhältnisse des modernen Kapitalismus weltweit auf der einen Seite – und Internationalisierung – das heißt Bündelung und Solidarisierung der sozialen Bewegungen – ebenfalls weltweit, die Herausforderung dieses Jahrhunderts. Ein erfolgreicher »Kreuzzug« des ungezügelten Kapitalismus verkürzt diesen Prozeß nicht, sondern verlängert ihn um den Preis wachsenden Elends und unzähliger Toter. Vielen Verantwortungsträgern der »westlichen Wertegemeinschaft« ist das bewußt. Sie sind deshalb potentielle Verbündete der Kriegsgegner. Sie sind sich aber auch dessen bewußt, daß sich die kapitalistische Wirtschaft im Zugzwang fühlt. Die durch den Zusammenbruch des Ostblocks kurzzeitig verzögerte Krise des Kapitalismus hat längst einen neuen Höhepunkt erreicht. Auch in Phasen der Konjunktur zeigt sich der moderne Kapitalismus seinen immanenten Problemen – ja, immer noch der alte Grundwiderspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Arbeit und der privaten Aneignung ihrer Ergebnisse – nicht mehr gewachsen. Seine zivilisatorischen Errungenschaften verlieren an Attraktivität, seine Staatlichkeit an Autorität. Sein demokratischer Selbstanspruch wird zur »Sicherheitslücke«. Als Alternative wird der Ordnungsstaat gesehen, statt eine wachsende Partizipation der Bürger an den gesellschaftlichen Verteilungsprozessen anzustreben.
In den siebziger Jahren spielte der Euro-Zentrismus philosophisch und politisch eine erheblich größere Rolle als heute, obwohl er inzwischen in Verträge und Handlungsmuster gegossen ist und weiter gegossen wird. Eine selbstkritische Sicht bleibt weithin unbeachteten »Eliten« vorbehalten. Die okzidentale Kultur sieht vom Orient aus wie die Erde aus der Stratosphäre: Ihre Errungenschaften ähneln Krebsgeschwüren. Man muß kein Kulturpessimist sein, um sich den Zusammenstoß einer militant-sexistischen Spaßkultur und eines vorkapitalistisch geprägten Familien- und Clanverbandes als Anachronismus zu vergegenwärtigen. Ist es wirklich so erstaunlich für den gebildeten, also verdrängungs- und selektionsbereiten Europäer, daß es Menschen gibt, die nicht bereit sind, den PREIS des Reichtums zu bezahlen, sondern die darin (nicht nur im religiösen Verständnis) einen Pakt mit dem Teufel sehen? Die Rede geht hier nicht von den verelendeten, im Analphabetentum und Aberglauben vegetierenden Massen, sondern von den feudalabsolutistisch herrschenden Anführern der nicht westlich geprägten Staaten. Europa hat seine Funktion als Kulturbringer verloren, ohne sich das einzugestehen. Sein Maßstab ist keiner mehr. Weil er nur noch als Fassade eines ANDEREN Elends dient.

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