Des Blättchens 4. Jahrgang (IV), Berlin, 22. Januar 2001, Heft 2

Wahnsinns-Kapital

von Erhard Crome

Da fällt einem zunächst das alte, ehedem vielzitierte Marx-Wort von der Korrelation zwischen Profithöhe und Gefahr des Galgens ein. Heute wird von »Risiko-Kapital« geredet. Mancher dachte vielleicht, es ginge um das Risiko des Kapitalanlegers. Die BSE-Umstände zeigen aber, das Risiko ist zuvörderst das der anderen, hier der Konsumenten.
Die Tatsachen sind bekannt. Marktbeherrschende Großproduzenten von Nahrungsgütern, Schlachtvieh und Viehfutter sowie von Pharmaka und Anabolika für Tiere sind eine unheilige Allianz eingegangen, haben die kleinbäuerlichen Produzenten als Geiseln genommen, den Verbrauchern allerlei Unappetitliches aufgetischt und bei alldem hervorragend verdient. Als Marx meinte, die Fortschritte der Agrikultur würden die Bedingungen der Landwirtschaft stetig verbessern, hatte er sicher nicht im Sinne, daß an Krankheiten verendete Nutztiere und ausgelaugte Laborratten zu Tiermehl verheizt würden, um anschließend zusammen mit Rückständen von Motorenöl an Wiederkäuer verfüttert zu werden.
Frau Höhn, die zuständige Ministerin für Verbraucherschutz, Umwelt und Landwirtschaft in Nordrhein-Westfalen, hat erst kürzlich darauf verwiesen, daß die Kohl-Regierung, als sie den Hut zum Gehen fast schon in der Hand hatte, noch einschlägige Begrenzungen für derlei Produktion gelockert hatte. War für Albert Schweitzer die »Ehrfurcht vor dem Leben«, die ausdrücklich die Kreaturen einschloß, Fluchtpunkt christlicher Ethik, so hatte auch hier wieder das »C« der entsprechenden Parteien nichts mit ethischem Denken zu tun – weder Ehrfurcht vor dem Leben der Tiere noch dem der Menschen, die am Ende der Nahrungskette stehen.
Nun aber hebt ein großes Geschrei an, nicht etwa wegen der Unappetitlichkeiten, Gesetzesverstöße und Vertuschungsversuche, sondern weil die rot-grüne Regierung dem nunmehr Einhalt zu gebieten sich veranlaßt sieht. Es ist in der Tat eine Ironie der Geschichte, wie Andrea Fischer meinte, daß ausgerechnet eine grüne Ministerin politische Verantwortung für Vorgänge übernehmen mußte, die von dem Agrar-Industrie-Komplex und seinen politischen Wasserträgern bewirkt sind. Indem über die vorgeblichen Schwachheiten der Regierungen in Bund und Ländern im Krisenmanagement geredet wird, wird gerade nicht über die Verursacher gesprochen. Nachdem die neoliberalen Zeitgeistströmer jahrelang danach strebten, den Staat immer weiter aus der Wirtschaft herauszudrängen, ihm die Berechtigung von Eingriffen in das Wirtschaften überhaupt abzusprechen, zeigen sie nun mit langem Zeigefinger auf den Staat, damit man die dahinter nicht sieht.
Flugs wird der Bundesregierung bescheinigt, sie regiere wohl doch schlecht und gehöre 2002 abgewählt, nachdem gestern noch auch alle bürgerlichen Spatzen vom Dach pfiffen, daß die derzeitige CDU nicht ein einziges neues Konzept entwickelt habe. Aber vielleicht kann ja Herr Berlusconi ein paar hilfreiche Tips geben. Der Versuch einer grundlegenden Umsteuerung der Agrarpolitik aber läßt nun zum großen Halali blasen. So weit kommt es noch, daß Verbraucherinteressen vor Gewinninteressen rangieren! Dann könnte man ja gleich den Menschen in den Mittelpunkt stellen und den Sozialismus einführen.
Insofern geht die Auseinandersetzung um die Folgerungen aus der BSE-Krise politisch viel weiter, als daß es nur um die Wurst ginge. Es geht um die Frage, ob das politische Gemeinwesen noch in der Lage ist, dem Wirtschaftsleben Rahmenbedingungen zu diktieren und diese auch international umzusetzen, oder ob es in der Tat bereits hilflos wirtschaftlichen, sprich Profitinteressen ausgeliefert und der Staat wieder auf die Nachtwächterrolle zurückgestutzt ist.
Unter sozialwissenschaftlicher Perspektive ist es klar: Die Artikulation und Durchsetzungsfähigkeit von Interessen in der Gesellschaft hängen von der Zahl und der Organisationsfähigkeit der Betroffenen ab. Die Agrar-Lobby galt jahrelang als eine der bestorganisierten in Deutschland und im EU-Europa – dies aber nur unter der Voraussetzung der Mobilisierungsfähigkeit der kleinen Bauern. Wird man ihnen weiter einreden können, daß sie Opfer der Politik der Bundesregierung seien, oder begreifen sie, daß sie nach den Tieren und noch vor den Verbrauchern Opfer des Agrar-Industrie-Komplexes, von der Futtermittelindustrie bis zur Fleischindustrie, sind? Verbraucherorganisationen dagegen sind traditionell nur bedingt durchsetzungsfähig. Werden die vielen Wurstesser sich bald wieder einlullen lassen, wenn die von der entsprechenden Lobby bezahlten Medien ihnen mitteilen, BSE sei gebannt und Big Brother viel interessanter als das, was in die Wurst kommt?
Die Lobbyisten sind schon gegen Schröders – eigentlich triviale – Feststellung, daß es ja erstaunlich sei, Wiederkäuer zu Fleischfressern gemacht zu haben. Die Schmutzkampagnen gegen die Ökosteuer werden nur ein müdes Vorgeplänkel gewesen sein im Vergleich zu den Auseinandersetzungen um eine grundsätzliche Umsteuerung der Agrarproduktion. Und man wird die Bauern aufhetzen, mit ihren Treckern Berlin lahmzulegen.
Die Grünen, die in letzter Zeit politisch recht unbeholfen wirkten, haben die innenpolitische Debatte auf diesem Felde deutlich vorangetrieben, nicht zuletzt durch das entschlossene Handeln von Frau Höhn in NRW, ohne daß es den derzeitigen Entscheidungsstand der EU in Sachen BSE nicht gäbe.
Derweil wird in der PDS um Grundsatzpunkte von Programmatik gestritten: Kapitalherrschaft, Kapitaldominanz, politische Spielräume, soll man Regieren wollen …? In der Frage Wahnsinnskapital wird die Sache jetzt praktisch ausgefochten. Und der Ausgang dessen reicht weiter, als »nur« bis zum Recht des Kalbes auf Sonnenlicht oder zum Recht des Menschen auf saubere Nahrung.