von Detlef Kannapin
Die Bundesrepublik Deutschland habe in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bei weitem weniger Defizite aufzuweisen als angenommen; die DDR, dem NS-System angeblich ähnlich, habe die Verantwortung aus diesem Teil der Geschichte zu wenig berücksichtigt und in den Westen abgeschoben. So etwa läuft nach zehn Jahren staatlicher deutscher Einheit der Diskurs zur NS-Geschichte im Großen und Ganzen immer noch.
Nach dem Untergang der DDR wurden so gut wie alle Erkenntnisse über die Geschichte des deutschen Faschismus, die im zweiten deutschen Nachkriegsstaat erarbeitet wurden, entwertet und abgeurteilt. Angesichts fortschreitender Probleme der Gesellschaft mit der unreflektierten politischen Artikulation rechter Parolen auf der Straße, an den Stammtischen und in Seminaren einiger akademischer Schulen ist ein Umdenken heute nötiger denn je.
Die Abqualifizierung war nicht gerechtfertigt. Ich behaupte sogar, daß die deutsche Teilung keine Sekunde zu lange gedauert hat – zumindest wenn man die Verarbeitung der NS-Geschichte betrachtet. Wer offenen Auges die Geschichte dieser vierzig Jahre wahrnimmt, der muß konstatieren, daß die unterschiedlichen und doch auf ihr jeweiliges staatliches Gegenüber gerichteten Geschichtsbilder zusammengenommen eine Reihe fruchtbarer Erkenntnisse über die Geschichte des Faschismus in Deutschland zutage förderten. Als einziger von den Etablierten hat vor einigen Jahren – allerdings nur auf die Widerstandsforschung bezogen – der Historiker Hans Mommsen darauf hingewiesen, daß die Bilder in der DDR und in der BRD geradezu komplementären Charakter besaßen. Sie ergänzten einander insoweit, als die ideologisch gefärbten Defizite auf der einen deutschen Seite die andere deutsche Seite zu Forschungen antrieb. Dieser Konkurrenzmechanismus wirkte in beiden Richtungen – nicht nur in der Widerstandsforschung, sondern auch in anderen Bereichen der Faschismusforschung.
Momentan verstellt die Totalitarismustheorie den Blick auf die geteilte Erinnerungsgeschichte. Mit Hilfe des Totalitarismusverdikts wurde und wird die DDR auf die Stufe der Naziherrschaft transformiert, obwohl beide deutsche Nachkriegsstaaten nicht nur als Ergebnisse aus der Nazizeit hervorgingen, sondern sich selbst – auf je eigene Weise – als antifaschistische beziehungsweise antinazistische Gesellschaftsentwürfe verstanden (und verstehen mußten). Die Totalitarismustheorie deckt nicht nur die gänzlich verschiedenen historischen Situationen, die zur Entstehung von »Drittem Reich« und DDR führten, zu, sondern erklärt politische Oberflächenphänomene zu sozialen Struktureigenschaften.
Sieht man freilich genauer hin, dann zeigt sich, daß selbst, wenn man die Totalitarismustheorie auf das NS-Regime und die DDR anwendet, bedeutend mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen Faschismus und dem Staatssozialismus der DDR auffindbar sind, was das ganze Theoriegebäude noch fragwürdiger macht.
Die deutsche Teilung war zwar ein Ergebnis des Kalten Krieges, wurde von vielen Deutschen aber als eine von den Alliierten verordnete historische Erblast für Faschismus und Krieg empfunden, wobei die BRD dem deutschen Faschismus ökonomisch, die DDR dem NS-System bei der Ausschaltung des Parlamentarismus verwandter war, ohne daß beide mit dem NS-Staat hätten in eins gesetzt werden können. Das Geschrei des Kalten Krieges von »Moskaus Statthaltern in Pankow« als »rotlackierte Faschisten« dort und »Spalter-Kurt und den Bonner Ultras« im »klerikal-faschistischen Adenauer-Regime« hier übermalte das, was auch damals schon alle wußten: Daß die zwei deutschen Staaten aus der NS-Geschichte Lehren ziehen mußten, um in der internationalen Staatengemeinschaft als anerkannte Partner überhaupt Gehör zu finden.
Notwendig ist heute eine andere Sicht auf die Vergangenheitsaufarbeitung. Unter den politischen Bedingungen der Ost-West-Konfrontation entwickelten sich auf beiden Seiten ein je eigenes Bild von der NS-Geschichte. In der Bundesrepublik – als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches – wurde versucht, viele frühere NS-Staatsträger durch soziale Integration politisch einzubinden und so eine neue NS-Bewegung zu verhindern. Die offizielle – ablehnende – Haltung gegenüber dem NS-System kam deshalb zunächst mehr einer moralischen denn einer gesamtgesellschaftlichen Anklage gleich. Ein Verdienst der DDR besteht in dieser Frage darin, immer wieder, wenn auch oftmals in Form von Kampagnen, darauf gedrungen zu haben, belastete NS-Funktionäre im Staatsdienst der BRD anzuprangern. Auch aufgrund eines solchen Störfeuers war die BRD nach und nach gezwungen, den Diskurs über die Vergangenheit intensiver zu führen. In den vierzig Jahren Teilung steuerte Westdeutschland im Hinblick auf den militärischen Widerstand gegen Hitler, mit der Durchleuchtung des höchsten politischen Führungspersonals der NS-Täterschaft, in der Anerkennung der Existenz des Mitläufertums zwischen 1933 und 1945 sowie mit der lange umkämpften Einsicht, daß Auschwitz einen Zivilisationsbruch darstellt, einiges zur Aufklärung der NS-Zeit bei. Die DDR brachte in die Grundsatzdebatte die Analyse der ökonomischen Grundlagen des Faschismus, große Teile einer Geschichte des Arbeiterwiderstandes, die Abkehr vom protestantisch-etatistischen Preußentum und nicht zuletzt durch ihre Existenz die Zügelung möglicher revisionistischer Positionen in der deutschen Außenpolitik ein. Man stelle sich ein ungeteiltes Deutschland in den Grenzen von 1949 mit voller Souveränität im Jahre 1955 vor, das die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkannt hätte und in dem das gesamtdeutsche Potential der »Heimatvertriebenen« politisch weitaus handlungsfähiger gewesen wäre, als es in der BRD war.
Andererseits hatten höchst marginalisierte Opfergruppen wie Homosexuelle oder Sinti und Roma im Rahmen der Geschichtsdiskussionen in Ost und West gleichermaßen einen schweren Stand, was auch beim gemeinsamen Ausblenden historischer Tatsachen auf eine prinzipielle Gleichförmigkeit des Vergessens hindeutet. Kurzum: Weder der eigenständige Beitrag der DDR zur Aufarbeitung der NS-Geschichte sollte als zu gering noch der Status der deutschen Teilung in der Perspektive des NS-Erbes als Hemmschuh der Entwicklung bewertet werden. Im Gegenteil: Die deutsche Zweistaatlichkeit könnte zumindest im Verhalten zur NS-Zeit als Gewinn zu betrachten sein, denn in der geteilten Erinnerung drückte sich das Wissen um das Gesamterbe umfassender aus, als es von einem schon früh geeinten deutschen Volk samt »Selbstreinigung« hätte erwartet werden dürfen.
Die jüngste Karriere der Totalitarismustheorie mit ihrer fehlleitenden Perspektive auf die »doppelte Vergangenheitsbewältigung im Diktaturvergleich« ohne Berücksichtigung der BRD hat dafür gesorgt, daß elementare Ergebnisse der NS-Debatte, die 1989/90 noch als gesichert anzusehen waren, heute verschüttet sind. Sie wieder aktualisiert ans Tageslicht zu bringen und sich damit einzugestehen, daß die heutige Bundesrepublik ohne die Einflüsse der DDR nicht denkbar ist, wäre für die Berliner Republik wohl eine angemessenere politische Aufgabe, als sich auf den waghalsigen Kurs einer »deutschen Normalität« zu begeben. Die Demokratie hätte dann auch weniger Probleme mit der rechten Gefahr.
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