Des Blättchens 3. Jahrgang (III), Berlin, 12. Juni 2000, Heft 12

Schleefs Frage, Fischers Antwort

von Erhard Crome

Die Uraufführung von Einar Schleefs Verratenes Volk im Deutschen Theater ist nun am 29. Mai gewesen. Werk und Realisierung auf der Bühne werden gewißlich sehr kontrovers debattiert werden. Die einen haben Probleme mit dieser Art Theater, andere wollen Rosa Luxemburg so nicht gesehen haben, wieder andere verstehen die sozialistische Rabulistik nicht, die Schleef weithin original in das Stück montiert hat, und damit das ganze Stück nicht. Der Untertitel »Wir sind das Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk.« assoziiert einen Bezug auf 1989, der im Werk nicht drin ist. Dort geht es um die Novemberrevolution 1918/19, darum, daß das Volk in Berlin zur Revolution herausgekommen war, daß die Führer aber diskutierten, Artikel schrieben, Partei gründeten, diskutierten, diskutierten … und das Volk nicht führten. So hatten sie, und zwar allesamt, das Volk verraten. Aber man kann ja mal die Frage auch im Hinblick auf 1989 stellen.
Ich will mich hier weder auf Kunstkritik noch auf Werksinterpretation vor dem Hintergrund historischer Forschungsergebnisse einlassen. Das sollen andere tun. Mich interessiert die Frage nach dem Platz der Deutschen in der neueren Geschichte, die Schleef aufwirft. Der Schlüssel zum Verständnis des Vorgeführten liegt in dem Nietzsche-Text, den der Autor und Regisseur selbst vornweg vorträgt. Nietzsche nennt im Ecce Homo den Idealismus, im Sinne des Sich-Beziehens auf ein Ideal, die ›innerlichste Feigheit vor der Realität‹, die gerade bei den Deutschen ›Instinkt gewordene Unwahrhaftigkeit‹. Ihnen, den Deutschen, schreit er ins Gesicht: »Alle großen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen!« So hat Luther, als das Christentum, jene »Religion gewordene Verneinung« des Lebens, im Gefolge der Renaissance unterlegen war, es mit der Reformation gerettet; als Napoleon Europa im Geiste der bürgerlichen Freiheit einigen wollte, haben die Deutschen dies zum Scheitern gebracht, indem sie ihm mit den sogenannten Freiheitskriegen den Nationalismus entgegensetzten, »diese kulturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es gibt«.
Es ist dies der Kontext, in dem Einar Schleef dartut: Es waren die Deutschen, die das Projekt »Sozialismus«, »sozialistische Revolution« 1918/19 zum Scheitern gebracht hatten. Gewiß, Lenins Gewaltherrschaft war ein verunmöglichender Faktor, weil sie die Idee des Sozialismus um ihren humanistischen Geist gebracht hatte. »Was unterscheidet Ludendorffs Erschossene von Lenins Erschossenen? Ist der kommunistische Führer ein Feldherr, der das Recht hat, die Arbeiter in den Tod zu führen?«, fragt die Luxemburg im Stück. Die historische Luxemburg hatte die Gefahren, die von der Leninschen Diktatur für die sozialistische Bewegung ausgingen, ja auch in der Tat namhaft gemacht. Aber es war zu spät.
In den aktuellen Debatten – »10 Jahre deutsche Einheit« – ist es durchaus eine Herausforderung, nicht nur nach den kleinkarierten Schäbigkeiten der Honecker-Wirklichkeiten zu sehen, sondern auf den Anfang. Und der liegt nicht irgendwo 1949 oder 1953 oder 1968 oder 1976, sondern 1918, mit der Vorgeschichte des ersten Weltkrieges. Es war schon vor Jahren Sebastian Haffner, der jenen Weltkrieg das »Urereignis des 20. Jahrhunderts« genannt hat und die Ermordung der sozialdemokratischen Novemberrevolution durch die sozialdemokratischen Führer den »Verrat«, der nicht nur das Scheitern der Weimarer Republik, sondern auch Hitler und damit die Verbrechen der Deutschen im zweiten Weltkrieg zur Folge hatte. Schleef geht nun einen Schritt weiter und sagt, in jener Konstellation waren die Linken, Luxemburg und Liebknecht, nicht nur Opfer, sondern Teil einer Konstellation, in der die politische Führung insgesamt die Arbeitermassen im Stich gelassen, »verraten« hatte, die in Berlin bereitstanden, die Revolution zum Erfolg zu führen.
Wenn wir auf den großen, von Nietzsche stammenden historischen Bogen zurückkommen, so haben die Deutschen also auch das sozialistische Projekt des 20. Jahrhunderts auf dem Gewissen. Und wie ist es heute?
Der zum Realpolitiker gewendete ehemalige Turnschuh-Alternative, der derzeit den deutschen Außenminister gibt, hat am 12. Mai in Berlin eine Rede gehalten. In ihr schlug er vor, aus der derzeitigen Europäischen Union heraus eine »Föderation« zu gründen, die wohl auf die Gründungsmitglieder von 1957 zulaufen würde, also jenes gleichsam »Karolingische« Kleineuropa mit Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten. Daß die Engländer nicht mitmachen werden, wußte schon vorher jeder Gymnasiast; auch die Spanier und Skandinavier wären düpiert, und die Osterweiterung geriete zur Farce.
Das Ergebnis wäre das Scheitern der Europäischen Union, und dies zu einer Zeit, da sie die einzige Chance bieten könnte, in der großen Weltauseinandersetzung, die »Globalisierung« genannt wird, ein wenig politischen, damit auch sozialpolitischen Handlungsspielraum gegenüber den mächtigen Akteuren der internationalen Spekulation zu erhalten oder neu zu gewinnen. Die neoliberal erzogenen Finanzanalytiker erklären es immer als unverständlich, daß die »internationalen Märkte«,sprich: die vor allem US-amerikanischen Fonds, so ›irrational‹ gegen den Euro spekulieren. Die Antwort ist vielleicht ganz einfach. Sie wollen, daß der Euro scheitert, um die Dominanz des Dollars zu erhalten.
Und da kommt der Fischer, ein Konzept vorzutragen, das – würde dem gefolgt – die EU mit Sicherheit auch von innen zerstört würde. Die Deutschen sind wieder im Begriff, vor einer großen europäischen Aufgabe zu versagen.