Das Blättchen, 2. Jahrgang (II), Berlin, 20. September 1999, Heft 19

Kotau im Armani

von Stefan Bollinger

Eines muß man Gerhard Schröder lassen: Ein schlechter Chef ist er nicht, er kümmert sich um seine Leute. Wurde zuerst Hans Eichel nach seiner Abwahl vom hessischen Ministerpräsidentenamt versorgt, so kann sich nun auch Reinhard Klimmt über einen neuen Job im Bundeskabinett freuen.
Vier Millionen offizielle und rund zwei Millionen verdeckte Arbeitslose haben davon wenig. Denn für sie hat sich auch unter der neuen Regierung nichts geändert. Die ist unbeliebt wie schon lange kein Kabinett mehr. Dafür präsentieren die Bundesbürger die Quittung: in Hessen, bei den Europawahlen, an der Saar und in Brandenburg, in Thüringen und in Nordrhein-Westfalen, demnächst wohl auch in Berlin und in Sachsen.
Eigentlich könnte das den Beobachter und den Nicht-SPD/Bündnisgrünen-Wähler kaltlassen, gar freuen. Nur: Diese Enttäuschung hat weitreichendere Folgen als nur den Sturz der einen oder anderen SPD-geführten Regierung und das Verzagen der bündnisgrünen Wählerschaft – im Westen und noch dramatischer im Osten. Die dumpfe Ahnung vom September 1998 bestätigt sich: Die SPD war nicht für den Wahlsieg, gar für Rot-Grün gerüstet – weder personell noch Mental, vor allem aber nicht konzeptionell. Damals träumte man in der „Baracke“ von einer Großen Koalition mit der CDU/CSU, als Juniorpartner, eventuell als Senior – auf keinen Fall jedoch in der Pflicht, tatsächlich einen Politikwechsel weg von der durchaus noch moderaten neoliberalen Politik der Christ-Liberalen einzuleiten.
Zwar schien es zunächst noch so, als ob die zum gemeinsamen Aufbruch verurteilten Schröder, Lafontaine, Fischer und Röstel irgendwie die Kurve bekommen hätten und sich Chancen für einen weiterreichenden Politikansatz öffneten. Auf diesen verzichtete aber Schröder. Nach dem Vergraulen des sich nicht standhaft wehrenden und nun schmollenden Lafontaine erhielt er in der SPD freie Bahn für seinen Ehrgeiz und seine devote Politik gegenüber dem großen Kapital. Die propagierte „moderne“ Politik – versehen mit Anleihen bei Blair – will einen Neoliberalismus unter sozialem Vorzeichen. Das kann besser sein als Marktradikalismus pur, bleibt aber eine Politik, bei der nur einer die Zeche zahlt: der einfache Bürger; keinesfalls die Reichen und Besserverdienenden dieses Landes.
Nachdem bereits im Kosovokrieg wesentliche Grundlagen einer alternativen Politik zugunsten eines „Wir sind wieder wer!“ verworfen wurden, hat sich gezeigt, daß auch eine Alternative zur bisherigen merktradikalen Politik mit diesem Kanzler nicht zu machen ist.
Im Herbst 1998 gab es in der Bundesrepublik eine Kräftekonstellation, aus der heraus eine Mehrheit für eine linke Politik gegen das „Weiter so!“ Hätte entstehen können. SPD, Bündnisgrüne und PDS hatten 52,7 Prozent der Wählerstimmen erhalten – reale Chance für einen Neuanfang. Allerdings war sich eine Mehrheit in dieser Mehrheit über die Richtung eines Wandels ebensowenig im klaren wie über die Konsequenzen. Trotzdem schienen Solidarität, Arbeitsplatzbeschaffung, Ökosteuern und friedfertige Außenpolitik durchaus machbar.
Genau das verhinderten Schröder – wie Fischer – und die Bundesregierung. Es sind nicht handwerkliche oder Vermittlungs-Probleme der neuen Mannschaft. Zu deutlich ist das eigentliche Handicap: Schröder & Co. können nicht „Nein“ sagenden deutschen Wirtschaftsbossen. Die Regierenden – trotz Armani stets bereit zum Kotau – knicken regelmäßig ein: Atomausstieg am Sankt-Nimmerleinstag, Öko-Steuern als Reservesäckel und nicht für den ökologischen Umbau, EU-Alt-Autoverordnung blockiert, Bündnis für Arbeit ohne Arbeit, Rentenreform mit Rentnern als Geiseln, Gesundheitsreform für Gesunde und so weiter. Zu alledem eine Außen-Politik, die nicht mehr nur auf friedliche Mittel setzt.
Schlimm ist, daß es Schröder vermutlich für längere Zeit geschafft hat, jede Hoffnung auf Alternativen zu begraben. In den letzten Amtsjahren Kohls – nachdem in Osteuropa der Sozialismus nachhaltig diskreditiert worden war – erhielt das Wort Reform schon einen schalen Beigeschmack. Nach einem Jahr Schröder erregen die Begriffe Reform und Alternative vollends den Verdacht, in einem Gruselkabinett ersonnen zu sein.
Es ist fatal: Die Sozialdemokratie, dem kleinen Mann verpflichtet, der sie zumindest im Westen bislang treu wählte, muß sich nun – zumindest verbal – ihren sozialen Schneid von der anderen Volkspartei abkaufen lassen. Die erinnert sich plötzlich der gesellschaftlich stabilisierenden Rolle einer „Sozialen Marktwirtschaft“ und avanciert zum Anwalt der kleinen Leute. Selbst der nun bewaffnete Pazifismus der Grünen findet seine angenehmere Entsprechung in einer vorsichtigeren Außen – und Sicherheitspolitik der Christdemokraten. Zu allem Überdruß verleitet die SPD-Schwäche die CDU dazu, jedem ernsthafteren Nachdenken über ihr 98er Debakel auszuweichen.
Was sollen Wähler noch wählen? Wahlabstinenz im Westen – im Osten sowieso – sind die Folge. Demokratie in Zeiten sozialer Verwerfungen war immer problematisch, ohne Systemkonkurrenz scheint sie wichtiger Triebkräfte verlustig gegangen zu sein. Der Verzicht auf Alternativen und auf den ökonomisch, ökologisch sowie sozial gestalteten Staat hinterläßt Leere.
Diese Enttäuschung und die vor allem in Ostdeutschland zu beobachtende Flucht in eine Aggressivität der einfachen Losungen und Feindbilder, die die Rechtsextremen bedienen, lassen für die politische Kultur nichts Gutes ahnen. Die PDS kann den links von der SPD freigewordenen Raum kaum besetzen und auf absehbare Zeit nicht ausfüllen, besonders im Westen nicht. Zudem läuft sie Gefahr, bei dem Versuch, die SPD in den neuen Bundesländern auf Linkskurs zu drücken, ihre Kräfte zu überschätzen und selbst Opfer der Sachzwänge zu werden.