27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

NACHTIGALL

von Henry-Martin Klemt

Regen nüchtert mich aus. Drei

Katzen streifen über den Hof, aber

die Nachtigall teilt sich noch

immer die schwarzen Stunden und

das Heimweh mit mir. Die Erde

lässt Dampf ab. Weitreichende

Raketen werden am letzten Grill

verschossen. Die Nachbarschaft,

argwöhnisch, schwimmt in die

Abwahltage. Lauernd auf ein

Signal, umschleichen feindliche

Satelliten einander. In der Stadt

meiner Kindheit war niemals

so viel Verkehr wie heute am

Black-Friday-Himmel. Ich habe

keine Lust mehr, nach oben zu

schauen. Jage Nacktschnecken,

schreibe Liebesbriefe, Honigmond,

die ich Dir von einem ins andere

Zimmer schicke oder liegen lasse

auf einer Parkbank, bevor ich

mich weiter wage, vielleicht bis

an den Fluß, der sich hinzieht

zwischen Wüstenstaub und

Nordlicht. Die Krähe fliegt mit

einem Ei im Schnabel davon.

Die Amsel folgt ihr ein Stück und

kann sich nicht wehren. Babys

zerkreischen die Nacht zwischen

Trümmern des Mitleids, das aus

der Welt gebombt wird. Zum Glück

hör ich nur Katzen beim Sex. Die

Nachtigall schweigt mir zu, eine

Verschwörerin, um zu leben.

 

Juni 2024