21. Jahrgang | Nummer 8 | 9. April 2018

Staatsräte

von Hermann-Peter Eberlein

Wenn ein Buch zugleich Roman und Sachbuch ist, verspricht es eine spannende Lektüre. Degradieren die fiktionalen Teile die Sachinformationen zu Beiwerk? Oder spürt man, dass romanhafte Passagen nur eingefügt sind, um einen langweiligen Stoff lebendiger erscheinen zu lassen? Ist das Nebeneinander stilistisch gemeistert oder zerfällt das Buch? Wie verhalten sich die Sprachebenen zueinander? Und welchen Erkenntnisgewinn trägt der Leser davon?
Helmut Lethen, Germanist, Kulturwissenschaftler, ehemaliger Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien und durch sein Standardwerk „Verhaltenslehren der Kälte“ über die Intellektuellen in der Weimarer Republik von 1994 ausgewiesen, hat ein spannendes, ein lehrreiches, ein mitreißendes Buch geschrieben über vier Vertreter der intellektuellen Elite im Dritten Reich.
Der Preußische Staatsrat hat eine bewegte Geschichte. Im 19. Jahrhundert ein beratendes Gremium, dem neben den königlichen Prinzen die leitenden zivilen und militärischen Amtsträger der Monarchie angehörten, bildete er in der Weimarer Republik die Zweite Kammer des Freistaates; Präsident war von 1921 bis 1933 der Kölner Oberbürgermeister Adenauer. Im Sommer 1933 in dieser Funktion aufgelöst, erstand der Staatsrat auf Initiative des preußischen Ministerpräsidenten Göring zugleich als rein beratendes Gremium neu und vereinte in sich qua Amt die Minister und Staatssekretäre sowie oberste NS-Funktionäre und ernannte Mitglieder – darunter mit Gustav Gründgens, Wilhelm Furtwängler, Ferdinand Sauerbruch und Carl Schmitt international bekannte Koryphäen aus Kunst und Wissenschaft, mit denen sich der NS-Staat schmücken wollte. Macht hat dieser Staatsrat, der insgesamt nur sechsmal tagte – zuletzt im März 1936 – nie gehabt.
Auf die vier genannten Vertreter der deutschen Kulturelite, die im Lande geblieben waren und insofern als Vorzeigeintellektuelle gegenüber Emigranten wie Thomas Mann und Einstein ins Feld geführt werden konnten, fokussiert Lethen sein Buch – sind sie es doch, an denen man der Frage nach der inneren Haltung kulturkonservativer Eliten unter den Bedingungen der Diktatur nachspüren kann. Und genau um diese Frage geht es.
Sieben Mal lässt Lethen seine Protagonisten zu fiktiven Gesprächen zusammentreffen, davon zweimal nach dem Kriege; dabei reduziert sich die Teilnehmerzahl am Schluss durch natürlichen Abgang. Insgesamt nehmen die fiktionalen Teile nur etwa ein Drittel des Buchumfangs ein; und auch innerhalb dieser Passagen tritt das Dialoghafte weniger hervor als die Reflexion, die oft genug auf belegbaren und belegten Lesefrüchten basiert. Damit ist der Sachbuchanteil eindeutig dominant – ohne dass freilich die Gespräche hölzern oder wie pure Illustration wirkten. Das Buch bleibt stilistisch in der Balance, die Reflexionen und das Verhalten der Charaktere in den fiktionalen Teilen sind schlüssig, die vorgestellten Szenen wirken lebendig.
In dieser Durchdringung von „So war es“ und „So hätte es gewesen sein können“ liegt das Movens des Buches und liegt am Ende auch der Erkenntnisgewinn. Hilflosigkeit und Dummheit, Anbiederung und Rückzug auf die Fachdisziplin (bei Sauerbruch und Furtwängler), Eitelkeit und Verblendung (bei Carl Schmitt), Selbstbetrug und Spiel (bei Gründgens), die Faszination der Macht und finanzielle Abhängigkeit – all das wirkt plastisch und weist zugleich weit über die vier präsentierten Individuen hinaus: Solche mentalen Gemengelagen wird es mehrere Ebenen unterhalb der der Staatsräte, auf der Ebene der Gymnasialprofessoren und Architekten, der Provinztenöre und Amtsgerichtsräte auch gegeben haben. Damit wird dieses Buch über einen wenig bekannten und eher unwichtigen Nebenschauplatz der Naziherrschaft zu einem Lehrstück über das komplexe und zugleich berechenbare Verhältnis von Kulturkonservativismus und Faschismus. Und es weist durch Nebenfiguren wie den nach dem missglückten Stauffenberg-Attentat hingerichteten preußischen Finanzminister Johannes Popitz über den engen Kreis der vier Staatsräte hinaus.
Wie schwierig es ist, das stilistische Niveau zu halten, und wie souverän Lethen diese Aufgabe beinahe durchgehend meistert, zeigt sich ex negativo an der einen Stelle, an der er ausrutscht: Wenn er nämlich Furtwängler – mit Bezug auf Karajans Schallplattenproduktionen – von „Aufnahmetechnologie“ reden lässt. Der Unfug, die Lehre von der Technik im Munde zu führen, wo doch nur die Technik gemeint ist, hat sich erst in den letzten Jahrzehnten bei Journalisten breitgemacht, die kein Deutsch mehr können – Furtwängler wäre das nicht passiert.

Helmut Lethen: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens – Furtwängler – Sauerbruch – Schmitt, Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018, 352 Seiten, 24,00 Euro.