21. Jahrgang | Nummer 8 | 9. April 2018

Nach Valldemossa

von Renate Hoffmann

George Sand (Aurore Lucile Dupin) erklärte: „Was mich betrifft, so unternahm ich diese Reise, weil ich […] ein besonderes Bedürfnis nach Ruhe und Erholung verspürte. Da es in dieser Welt, welche wir uns erschaffen haben, für alles an der Zeit fehlt, bildete ich mir ein, ich könnte wenigstens ein Mal einen stillen Ort des Rückzugs finden.“ Die bekannte französische Schriftstellerin begab sich 1838 zusammen mit Frédéric Chopin, ihren beiden Kindern Maurice und Solange und dem Hausmädchen Amélie auf den Weg von Paris nach Mallorca. – Was mich betrifft, so lockten der Aufenthalt der kleinen Gesellschaft in der Kartäuser Klause von Valldemossa und die gelobte Natur der Baleareninsel zur Reise.
Von Palma de Mallorca in die Bergwelt der Serra de Tramuntana. Wilde Felsformationen. Ururalte Olivenbäume auf steilen Terrassen. Höher und höher hinauf und hochgelegen der Ort Valldemossa. Rosenstöcke an den Hauseingängen, Paternosterbäume übersät mit orangefarbenen Fruchtkügelchen vom letzten Herbst und auf dem Pflaster Katzen im Räkelgang. Viel Grün, viel blauer Himmel.
Glockenturm und Konglomeratbau der Kartause fangen den Blick. Einstens eine königliche Residenz aus dem 14. Jahrhundert in schönster Lage, dann dem Kartäuser-Orden überlassen. Achtsame Umwandlung in ein Kloster mit Kirche, Kreuzgang, Innenhof, Apotheke und zehn Zellen zu je drei Räumen und einem individuellen Gärtchen. Nach der Säkularisierung 1835/36 Auszug der Mönche. Und im Jahr 1838, am 15. Dezember, einem Samstag, Einzug eines berühmten Paares …
Durch die wuchtige Klosterkirche und die Sakristei folge ich, wie einer musikalischen Richtschnur, den unverkennbar chopinʼschen Klängen eines Klaviers. Ich laufe vorbei an einem kleinen Garten, gefüllt mit überquellendem Grün und gelange in den ehemaligen Königspalast, der Keimzelle des Klosters. Er ist in die klösterlichen Bauten eingebunden. Im Musiksaal spielt man Chopin. Auf einem modernen Flügel. Mazurken und der „Minutenwalzer“ perlen im Raum.
Frédérics Nöte auf Mallorca bestanden – neben seinem bedenklichen Gesundheitszustand – im Fehlen eines Tasteninstrumentes. Wie sollte er ohne ein solches komponieren? Waren doch die mehrfach angekündigten Préludes weiter zu erarbeiten und manches noch, was ihn musikalisch zur Gestaltung drängte. Zu Beginn der Reise hatte man bei Ignaz Pleyel in Paris ein Instrument bestellt. Doch die Ankunft verzögerte sich. Als Notbehelf war in Palma ein Piano gemietet worden, verstimmt und von unsauberem Klang. Das „pauvre piano mayorquin“. Chopin litt. – Am 21. Dezember trifft die erlösende Nachricht ein: der „Pleyel“ ist da – und Chopin überglücklich. George und Maurice fahren hinunter nach Palma. Auf die Vorfreude folgt jedoch eine böse Überraschung. Die Zollbehörde verlangt 700 Franc Abfertigungsgebühr. George ist sprachlos. Nach kurzer Überlegung beschließt sie, das Klavier nach Frankreich zurückzuschicken – unmöglich. So werde sie es einfach stehen lassen – das sei nicht erlaubt. Dann wolle sie das Piano ins Meer werfen – das ginge überhaupt nicht. Unverrichteter Dinge müssen die beiden umkehren.
Der Kutscher lehnt die Fahrt nach Valldemossa ab. George kann ihn überreden. Unterwegs setzt starker Regen ein. Er geht in ein Gewitter über. Die Wege werden zu Sturzbächen, die Geröll mit sich führen. Dunkelheit. Wiederholt versinkt der Wagen im Schlamm, das Maultier stürzt. Sie gehen zu Fuß weiter und erreichen die Klause nach sieben Stunden. Barfuss und völlig durchnässt. – Chopin befand sich in größter Sorge. George Sand berichtet: „Doch die Besorgnis war zu einer stummen Verzweiflung erstarrt, und weinend spielte er sein wunderbares Prélude. Als wir den Raum betraten, sprang er auf und stieß einen Schrei aus, dann sagte er […] mit fremder Stimme: ,Ich dachte, ihr wäret tot!‘“ Er gestand, er habe, um sich selbst zu beruhigen, wie im Traum Klavier gespielt. George Sand: „Die Komposition jener Nacht war voll von Regentropfen, die von den klingenden Ziegeln der Kartause widerhallten, […] doch in seiner Musik hatten sie sich in Tränen verwandelt …“
Anfangs rätselte man, welches der Präludien diese Komposition sei. Schließlich setzte sich die Meinung durch, es handle sich um op. 28 Nr. 15 in Des-Dur, späterhin als „Regentropfen-Prélude“ bekannt. – Zur Ergänzung: Vermutlich am 3. oder 4. Januar 1839 kam das langersehnte Piano von Pleyel endlich, endlich nach Valldemossa.
Im hohen Kreuzgang hallt der Schritt. Der kleinen „Familie Sand/Chopin“ wird in den vormaligen Kartäuserzellen Nummer zwei und vier gedacht. Briefe, Gemälde, ein Schaltuch von ihr, eine nachtblaue Weste von ihm. Er trug sie bei seinem letzten Konzert am 16. November 1848 in London. Das große Kohlenbecken, von dem es hieß, es habe zwar gewärmt, aber man musste die Tür zum Garten öffnen, um den Rauch abziehen zu lassen. – Da liegt auch der kreuzförmige, mit Strasssteinen besetzte Anhänger, den George Sand liebte. Der Dichter Alfred de Musset kannte ihn an ihr. August Charpentier malte das bekannte Porträt der Schriftstellerin, auf dem sie ebenfalls das Strasskreuz umgelegt hat. Eine Kopie des Bildes zeigt die Schönheit dieser Frau, die sich selber nicht für schön hielt. Doch die Zeitgenossen sagten ihr nach, sie habe unwiderstehlichen Charme, Augen voller Intelligenz und Humor, ein bezauberndes Lächeln und schöne Haare.
Noten über Noten. Viele Zeichnungen von Maurice, der, wo er ging und stand, mit dem Stift festhielt, was ihm begegnete. Auf diese Weise erhält man Einblicke in die unübliche Welt der damaligen Klosterbewohner. – Es fehlt nicht Chopins blonde Haarlocke; daneben steht auf altersgebräuntem Papier handschriftlich „Poor Chopin 1849“.
Nicht ohne Ehrfurcht betrachte ich den „Pleyel“. Auf der Tastatur liegt traditionell eine Rose. Manchmal gelb, heute rot. – Mitte Januar 1839 übersandte Chopin seinem Freund Julian Fontana nun den Klavierzyklus der 24 Préludes und kündigte an: eine Ballade, Robert Schumann gewidmet, zwei Polonaisen und ein Scherzo.
Die Tür zum Garten steht weit offen. Zitrusfrüchte reifen. Aralien, Feigen und Efeu bilden ein grünes Gewölbe. Aus der alten Mauer plätschert Wasser. Das Tal liegt ausgebreitet. Und der Wind weht Duft nach Rosmarin und Myrte herauf.
Frédéric an Julian: „Alles ist nur ein Sandkorn im Vergleich zu diesem Himmel, der Poesie, die überall von hier ausgeht und den lebendigen Farben dieser Landschaft. Es ist eine der schönsten dieser Welt.“