21. Jahrgang | Nummer 8 | 9. April 2018

Der anschmiegsame Samttöner.
Eine Liebeserklärung an die Bratsche und ihre Spieler

von Klaus Wallendorf

Eigentlich verfügen die Berliner Philharmoniker über 16 ständige Bratschisten (generisches Maskulinum!). Allerdings sind den Orchestermitgliedern eigenständige Auftritte nur in Ensembles mit nicht mehr als maximal zwölf Musikern gestattet – wahrscheinlich, um den Philharmonikern insgesamt klanglich nicht zu allzu nahe zu rücken, wie in der Eingangsconférence des Konzertes der somit nur „12 Bratscher der Berliner Philharmoniker“ am 28. Februar 2018 im nahezu ausverkauften Kammermusiksaal ihres Stammhauses mitgeteilt wurde.
Dem offenbar überwiegend neugierigen Publikum – auf die Frage des Sprechers „Ist denn heute auch jemand aus rein künstlerischen Gründen hier?“ hoben sich zwar Hände, aber erkennbar im lediglich niedrigen einstelligen Bereich – wurde dieses Programm geboten:

Michael Praetorius
Terpsichore (gedr. 1612)
(Bearbeitung für Bratschenensemble von Wolfgang Talirz)
daraus:
Passameze
Gaillarde
Volte
Volte du Tambour
Volte Nr. 201

York Bowen
Fantasie e-Moll op. 41 Nr. 1 (1907) für vier Bratschen

Giuseppe Verdi
Quattro pezzi sacri [Vier geistliche Stücke] (1889)
(Bearbeitung für Bratschenensemble von David Riniker)
daraus:
Nr. 1 Ave Maria (über eine rätselhafte Tonleiter)

Simonide Braconi
Back to the viola (spätestens 2016) für 12 Bratschen

Gioacchino Rossini
Il barbiere di Siviglia (1816)
Dramma comico in zwei Akten
daraus:
Sinfonia
Bearbeitung für acht Bratschen von Oliver Tepe)

Giuseppe Verdi
Quattro pezzi sacri
(Bearbeitung für Bratschenensemble von David Riniker)
daraus:
Nr. 3 Laudi alla Vergine Maria

Benjamin James Dale
Introduktion und Andante op, 5 (1911)
für sechs Bratschen

Max von Weinzierl
Nachtstück op. 34 (1883)
für vier Bratschen

Astor Piazzolla
Quatro estaciones porteñas [Die vier Jahreszeiten von Buenos Aires] (1965–1970)
daraus:
Nr. 3 Primavera Porteña [Frühling in Buenos Aires]
(Bearbeitung für Bratschenensemble von Martin Stegner)

Maria de Buenos Aires (1968)
Tango Operita in zwei Teilen
daraus:
Fuga y Misterio
(Bearbeitung für Bratschenensemble von Martin Stegner)

Johann Strauss (Sohn)
Kaiserwalzer op. 437 (1888)
(Bearbeitung für Bratschenensemble von Wolfgang Talirz)

Dem akustischen Vergnügen des Abends war ein Programmheft beigesellt, dem der nachfolgende Beitrag mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Stiftung Berliner Philharmoniker entnommen ist.

Die Redaktion

Jahrzehntelang durfte ich vom Platz des dritten Hornisten aus verfolgen und genießen, wie unsere philharmonische Bratschengruppe das Orchesterrepertoire mit ihrem versonnenen bis heldischen, durch und durch individualistisch abgetönten, doch stets gruppendienlichen Spiel veredelte. Heute darf ich die lang ersehnte Gelegenheit nutzen, ihnen mit einigen Textbeiträgen aus fünf Jahrzehnten genussvoller Violaphilie zur Seite zu stehen.
Mein vor einiger Zeit in gesegnetem Alter verstorbener Freund Theo, der Dachschindelhändler in Piding bei Freilassing, war, ist schuld daran, dass ich in den Siebzigerjahren zu der Überzeugung gelangte, die Bratsche sei ein leicht spielbares Instrument, das zu Recht mit Hilfe eines Darms zum Klingen gebracht wird.
Wenn Theo nach getaner Arbeit einen schindelfreien Abend vor sich hatte, umgab er sich gern mit konzertierwilligen Studenten des Salzburger Mozarteums, die als Ausgleich für seine großzügige Bewirtung sein autodidaktisch entstandenes Bratschenspiel in Kauf nahmen, das er bei der Bewältigung von Streichquartetten bis hin zur Wiener Vorklassik zu häuslicher Geltung brachte.
Diese Musizierabende zogen sich oft bis in die frühen Morgenstunden hin und erlaubten Theo, die Lagen zumindest bei seinen Weinsorten zu wechseln. Auch der Unterschied zwischen Halben, Vierteln und Achteln ist ihm wahrscheinlich in jenem kühlen Gewölbe bewusst geworden, in dem Sechzehntel keine Rolle spielen.
An ein Werk wie das nun folgende hätte sich Theo auch in solchen Zeiten nicht gewagt, in denen er beinahe täglich den Gebrauch der heiklen A-Saite in Erwägung zog.
In seinem Verhältnis zur Bratsche wie auch in der Ehe liebte Theo den Gegenstand seiner Anbetung, beherrschte ihn aber nicht, denn sonst hätte er sich sicher mit seinem Wunsch durchgesetzt, wenigstens eine der drei Töchter Viola zu nennen.
Widmen wir diese zusammenfassenden Worte jenen zahl- und namenlosen Bratschen-Amateuren, die spielerisches Unvermögen davor bewahrte, neben der Leidenschaft auch noch vom Beruf ergriffen zu werden.
Ich sehe die Kolleginnen und Kollegen vor mir, wie sie sich Gedanken über ein denkbares Abendprogramm machen, und wie sie sich dann den Überlegungen eines jeden Kammermusikensembles hingeben, das nicht mit einem solchen Überangebot an Repertoire gesegnet ist, wie es etwa den Streichquartetten zu Gebote steht.

Die heutige Programmauswahl beginnt mit einem veritablen Alten Meister, Michael Praetorius, der kurz nach Beginn des Dreißigjährigen Kriegs starb und eine Unzahl von Tänzen hinterließ, auf die nahezu jede Instrumentalgruppe zurückgreifen kann. Die in diesem Konzert zu hörenden fünf Sätze (Passameze, Gaillarde und drei Volten) gehören zur 1612 unter dem Titel Terpsichore veröffentlichten „ einzig erhaltenen Sammlung weltlicher Musik von Praetorius“, die man unter www.michael-praetorius.de zur garantierten Erbauung im Internet aufsuchen kann.
Das Ave Maria und die Laudi alla Vergine Maria aus Giu­seppe Verdis Quattro pezzi sacri (Vier geistliche Stücke) kommen der besinnlichen Seite des Bratschenklangs in nahezu erschütternder Eindringlichkeit entgegen. Ein Kuriosum stellt dabei Verdis Beschäftigung mit einer etwas abwegigen Tonleiter dar, die sein italienischer Zeit- und Zunftgenosse Adolfo Crescentini ersonnen hatte, um dem Diktat der bestehenden Skalenordnung eine individuelle Variante entgegenzustellen. Für Verdi eine Gedankenspielerei, die man beim Zuhören kaum nachverfolgen kann, hat sie dem Professor Crescentini immerhin einen Eintrag in den Enzyklopädien der Nachwelt gesichert.
Mit dem Bratschisten Simonide Braconi erleben wir einen jüngeren Komponisten aus Italien, der das Instrumental­repertoire schon um vielsaitige Abenteuer vermehrt und bereichert hat. Sein Back to the Viola beschreitet einen Weg „ zurück zur Bratsche“, der sich vielleicht an reumütige Heimkehrer in seine Stimmgruppe wendet, die ausflugsweise zur Violine gewechselt hatten.

Die verbliebenen Komponisten des heutigen Abends lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: in die berühmten – wie Rossini, Strauß und Piazzolla – sowie diejenigen mit enger Bindung speziell an das Bratschistenrepertoire, aber bislang ohne nen­nenswerte Bedeutung für die Musikgeschichte. Naturgemäß erscheinen die Werke der großen Namen in ihrer Überlieferung durch Bearbeitungen, die übrigen erweitern den Abend um die noch immer vergleichsweise spärlichen Originalkompositionen.

York Bowen aus London lebte von 1884 bis 1961 und war der jüngste Sohn des Besitzers der Whiskydestillerie Bowen & McKechnie in Crouch Hill/London. Ob zwischen den gelegentlich leicht rauchig-verhangenen Klängen der Bratsche und den entsprechenden Gemütslagen insularer Whiskytrinker ein hörbarer Zusammenhang besteht, entnehmen Sie bitte Bowens Fantasie e-Moll op. 41 Nr. 1 für vier Bratschen.
„Nachtstücke“ findet man in der Musik des Öfteren. E.T.A. Hoffmann schrieb einen Erzählzyklus gleichen Titels, die Robert Schumann zu seinen Nachtstücken op. 23 für Klavier anregten – düstere Stimmungsbilder für regnerische Wochentage, die nicht nur die Bratschisten am liebsten mit unerlässlichen Tonstudien verbringen.
Max von Weinzierl – nach dem die Weinzierlgasse in Wiens 14. Bezirk benannt ist – hinterließ ebenfalls ein Nachtstück genanntes, traumverlorenes Tongebilde, das als erste Originalkomposition für diese Besetzung in die Musikgeschichte Eingang gefunden hat. „Ueber den Lebens- und Bildungsgang dieses Compositeurs, von dem weit über ein halbes Hundert Tonstücke im Druck erschienen sind, wissen wir nur wenig“, heißt es in Constant von Wurzbach-Tannenbergs Biographischem Lexikon des Kaiserthums Österreich. Ohne die pionierhafte Zuneigung einer global auftretenden Bratschergemeinde hätte sich Weinzierls Opus 34 kaum aus der Vergessenheit befreit, der zum Beispiel Werke wie diese angehören: die Polka frangaise Frei nach Linne (Devise aus der Pflanzenwelt) für Männerchor mit Pianoforte – oder die Quadrille für Männerchor mit Orchester oder Pianoforte unter dem rätselhaften Titel Das Sitzen.

Zur Auflockerung folgt hier eine leicht verschrobene Hymne an die Viola, die dem Kapitel Violonzoologisches aus meinem Büchlein Immer Ärger mit dem Cello entnommen ist:
„Die Bratsche bildet innerhalb der Gruppe freischwingender Pultgrantler die anspruchsvollste Spezies und weicht durch nonkonformistische Paarungsmuster ein wenig vom überlieferten Bild dieses immer ein wenig abwesend wirkenden Herdensäugers ab. Fehlt einmal ein Exemplar bei der morgendlichen Äsung, so kann man sicher sein, es an einer ruhigen Lichtung irgendwo im Streicherwald vor sich hin sinnierend aufzufinden, versonnen den Eindrücken längst vergangener Tage der Alten Musik nachhängend. In solchen Momenten darf man die Bratsche ebenso wenig aufschrecken wie den Schlafwandler, der nächtlich seine gewohnten Dächer überquert. Im Hügelgebiet unserer Mittelgebirge fühlt sich die Bratsche am wohlsten, denn sie ist nicht schwindelfrei und daher für Einsätze in höheren Lagen ungeeignet. Der Meeresspiegel mit seinen unendlichen Gelegenheiten zu entspannten Wattwanderungen über die Sandbänke unserer Hörgewohnheiten liegen der Bratsche mehr als die exhibitionistische Extremkletterei ihrer Artgenossen.
Die Bratsche ist sowohl im Rudel als auch einzeln von umgänglicher, bisweilen etwas selbstverliebter Natur, kaum bissig, ein bisschen spröde im Dialog, jedoch im Bestand nicht gefährdet. Als notorischer Mitteltöner um steten Ausgleich zwischen den Arten bemüht, wird sie daher von vielen Seiten als konsensförderndes Element gern in Anspruch genommen.
Ergebnissen jüngster Recherchen zufolge ist die Bratsche das Produkt eines Kreuzungsversuches aus Violine und Gambe. In der Universität von Cremona sperrte man zu Semesterbeginn des Jahres 1679 einige Gambenmännchen monatelang unter Paarungsbedingungen mit der entsprechenden Anzahl Geigenweibchen zusammen und fütterte sie mit Proben von Kreuztonarten. Intensive Nachforschungen der Stiftung Tonartenschutz bestätigen diese These. Auf den laufenden Musikbetrieb wird diese Faktenlage keinen Einfluss haben – die Bratsche und ihr Spielmaterial sind längst bestens im Konzertalltag eingebunden –, aber es mag ja für den einen oder anderen Bratscher von Bedeutung sein, wenn er sich über seine Wurzeln im Klaren ist.“

Benjamin James Dale (1885–1943) aus London wurde von Lionel Tertis – der seinerzeit so etwas wie der Paganini der Bratschisten gewesen zu sein scheint – mit der Komposition von Introduktion und Andante beauftragt, das dieser im Jahre 1911 gemeinsam mit fünf Studenten als Originalwerk für Bratschensextett aus der Taufe hob, um der erstaunten Musikwelt vorzuführen, zu welchen virtuosen musikalischen Wunderdingen die Bratsche inzwischen in der Lage war. Ob Dales kurzes Opus 5 tatsächlich „Effekte von fast beethovenscher Majestät und Größe mit melodischem Schwung“ verbindet, wird die heutige Aufführung zeigen.
Der argentinische Bandoneon-Virtuose und Komponist Astor Piazzolla machte den Tango Philharmonie-tauglich und hinterließ ein Lebenswerk, aus dem sich schon Generationen von Instrumentalisten zur Belebung ihrer Werkauswahlen bedienten. Seine Primavera Porteña (Frühling in Buenos Aires) sowie Fuga y Misterio aus der Tango Operita Maria de Buenos Aires leiten den tänzerischen Ausklang des heutigen Konzertabends ein.
Der Kaiserwalzer op. 437 von Johann Strauß (Sohn) ist längst kein kommentierbedürftiges Stück mehr, aber wenn man einen Blick auf die originalen Violastimmen geworfen hat, kann man ermessen, wie wichtig es unseren Bratschisten war, das Werk einmal aus der gestaltenden Perspektive eines Melodie­inhabers aufzuführen. (Zur originalen Bratschenstimme hier klickendie Redaktion.)

In der Instrumentenbezeichnung „Viola da Braccio“ steckt übrigens das italienische Wort für den Arm (il braccio), auf den neidische Konkurrenten in ihren oft dürftigen Witzen die Bratsche nehmen, um die natürliche Würde dieses anschmiegsamen Samttöners dem freudlosen Gelächter einer immer leichter erheiterbaren Öffentlichkeit auszusetzen. Die Bratscher quittieren solche Anwürfe mit der gleichen Gelassenheit, mit der die Ostfriesen, die Appenzeller, die Belgier oder vergleichbare Minoritäten eines Landes fremden Spott erdulden.
Die Viola – vulgo: Bratsche – durchtönt das Reich der ewigen Mitte und fühlt sich in der Nachbarschaft der nachdenklichen Celli hörbar wohler als neben den sprunghaft-demütigen Zweiten oder gar den vorwitzig-überheblichen Ersten Geigen. Tritt wieder einmal ein unangefochtener Meistergeiger zum Bratschertum über, so resultiert diese Entscheidung nicht aus spielerischer Überforderung, sondern aus der Erkenntnis des im Dienst geläuterten Musikers, wonach die vordergründige und oft spektakuläre Melodieführung einer Geigenstimme letztlich doch verblasst neben den tieferen, wenn auch selteneren Einsichten, die im sanft gemaserten, edelhölzernen Brutkasten eines Bratschenkörpers heranreifen.

Die Bratscher sind im Gros der Streicher
um das gewisse Quentchen gleicher,
das mancher braucht, um sich von Plätzen,
die weiter vorn sind, abzusetzen.
Sie liegen klanglich in der Mitte
und sind im Partiturbild dritte,
wo sie sich weich, doch hörbar zwischen
die Geiger und Cellisten mischen.
Sie führen gern ihr Dienerleben,
um nicht mit Trümpfen anzugeben,
die sie zwar hätten, doch erst zeigen,
wenn and’re Tonangeber schweigen.
Ist die Gelegenheit gekommen,
wird sie beherzt beim Schopf genommen,
um die gewohnten Auftrittsnormen
zu ungewohnten umzuformen.
Die Gunst der Abendstunde nutzend,
könnt ihr das unerreichte Dutzend
bewerten oder still genießen
und dann in eure Herzen schließen.

Der letzte Vers darf als Aufforderung verstanden werden und passt abschließend zu dem berühmten, hier leicht abgewandelten Ausspruch Friedrich Nietzsches: „Ohne Bratsche wäre die Musik ein Irrtum.“