21. Jahrgang | Nummer 6 | 12. März 2018

Leseverbote und Verschnullerung

von Waldemar Landsberger

Trotz Berliner Mauer besorgte mein Vater Karl-May-Bücher aus dem Westen und schenkte mir seit ich lesen konnte zu Weihnachten oder zum Geburtstag immer einen Band von Karl May. Ich las die Bücher mit leuchtenden Augen und verborgte ab und zu auch mal eines an Freunde und Klassenkameraden. Einmal, es war in der vierten oder fünften Klasse, wurde in der Schule wieder einmal eine Taschenkontrolle durchgeführt und alle Schüler mussten den Inhalt ihres Ranzens vorzeigen. Ich hatte gerade einen Karl May in der Tasche. Die Lehrerin zog ihn ein, meine Mutter musste ihn in der Schule abholen und sich eine lange Ermahnungsrede anhören, dass sozialistische Schüler solch bürgerliche Schundliteratur nicht lesen.
Ich ließ mich danach nicht vom Lesen abhalten, achtete nur darauf, nicht wieder einen Karl-May-Band zur Schule mitzunehmen (bevor sie in der DDR selbst erschienen). Später, in der Jungen Gemeinde, lasen wir Albert Camus’ „Die Pest“, Erich Kästners „Schule der Diktatoren“ und „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt. Die galten in der DDR der 60er Jahre als Konterbande vom Klassenfeind. Als ich Fünfzehn war, gab mir mein Vater Milovan Djilas’ „Die neue Klasse“ zu lesen, damit ich den Sozialismus richtig verstehe, und bemerkte grinsend, wenn ich mich damit erwischen lasse, müsse er in den Knast. Ich habe nicht ausprobiert, ob das stimmte.
Zu jener Zeit hatte mir eine alte Nachbarin einen uralten Rundfunkapparat geschenkt. Mit dem konnte man zwei Sender empfangen: den Berliner Rundfunk aus dem Osten und Rias 2 aus dem Westen. Dort hörte ich nicht nur die neuesten Westschlager, sondern auch die Geschichtsvorträge von Sebastian Haffner. In einem erzählte er, dass Walter Ulbricht der erfolgreichste deutsche Politiker der Nachkriegszeit sei. Ich fand es bemerkenswert, aus dem Westen so etwas zu hören. Inzwischen war ich in der FDJ, war Schüler der Erweiterten Oberschule und hielt später die DDR für den besseren deutschen Staat, weshalb ich in die Sozialistische Einheitspartei eintrat. Die „bürgerliche Literatur“, die die Schule unterdrücken und die Junge Gemeinde mir nahebringen wollte, hatte mich nicht davon abgehalten.
Jetzt lese ich, dass die Stadtratsfraktion der Linkspartei in Leipzig ein Verbot der Teilnahme „rechter Verlage“ oder solcher, die sie dafür hält, an der Leipziger Buchmesse erwirken wollte. Sie meint, fremdenfeindliche Übergriffe und die Wahlergebnisse der AfD seien auf das Lesen der falschen Bücher und Zeitschriften zurückzuführen. Ich halte es noch immer mit Marx: „die Menschen sind noch immer von sich ausgegangen“ und „das Sein bestimmt das Bewusstsein“. Es muss zuerst über die sozialen Verwerfungen und Widersprüche infolge deutscher Einheit und neoliberalen Sozialabbaus in Sachsen geredet werden, bevor dort falsches Leseverhalten moniert wird. Außerdem weiß ich nicht, ob die gewalttätigen Neonazis überhaupt lesen. Wenn aber die Linke mit den „Verlierern“ der kapitalistischen Anverwandlung nichts mehr zu tun hat, im „wirklichen Leben“ nicht, im Gesellschaftlichen nicht und aus ihrer linken Denk- und Politikblase nicht herauskommt, dann löst ein Verlagsverbot, das eigentlich ein Bücherverbot und in der Konsequenz ein Denkverbot sein soll, das Problem nicht. Mit anderen Worten, wir sind wieder auf dem Niveau der Dummköpfe in der SED der sechziger Jahre.
Verteufelt wird zum Beispiel das Buch „Finis Germania“ von Rolf Peter Sieferle. Ich bekenne, ich habe es gelesen. Wie übrigens auch den „Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler. Sieferles Buch wurde als „antisemitisch“ denunziert. Der Spiegel hatte es der politischen Korrektheit wegen von der Bestsellerliste gestrichen. Sieferles Monitum ist, dass sich das religiöse Selbstverständnis der Juden als von Gott auserwähltes Volk, sozusagen als positiv auserwähltes Volk, und die Deutschen mit dem Jahrhundertverbrechen von Auschwitz als negativ auserwähltes Volk auf der Ebene einer „komplementären Sonderrolle“ innerhalb der Menschheit bewegen, die bis ans Ende der Zeiten bleiben wird. Das ist keine Auschwitz-Leugnung, sondern der „Rückgriff auf eine metaphysische Deutungsebene“, wie der Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski hervorhob.
Überhaupt verbaut die Denunziation von „Finis Germania“ als rechte Konterbande die Möglichkeit, über die aufgeworfenen Themen zu diskutieren. Beispielsweise kritisiert Sieferle das quasi geschichtsteleologische Grundverständnis der Briten und dann der USA-Amerikaner, wonach eine Linie von Christentum, Protestantismus und Aufklärung zu Demokratie, Bürger- und Menschenrechten führen würde. Das wird in den politiktheoretischen Einführungen stets als der normale und zwangsläufige Weg der Geschichte, der zur Moderne geführt habe, dargestellt. Tatsächlich war es im 16. Jahrhundert ein Sonderweg innerhalb des christlichen Europas, und wenn 1588 Philipp II. von Spanien und nicht Elisabeth I. von England Erfolg gehabt hätte, wäre der sehr schnell zu Ende gewesen. Die Behauptung gegenüber Deutschland war, es hätte einen historischen „Sonderweg“ eingeschlagen, während jener der Normalweg gewesen sei. Tatsächlich wurde diese Betrachtung inzwischen ausgeweitet, dass die Balkanvölker keine Aufklärung hatten – sie standen ja unter osmanischer Herrschaft – oder die Chinesen – sie hatten ja den Kaiser und Konfuzius. Man könnte also als Linker in der Auseinandersetzung mit der derzeitigen Staatspropaganda, es ginge in der Welt um die Verteidigung und Durchsetzung „westlicher“ Werte, hinter denen sich handfeste wirtschaftliche und Machtinteressen verbergen, gegen die Ansprüche des chinesischen Aufstiegs, sehr gut mit Sieferle argumentieren. Das ist aber verbaut, solange der Autor auf dem Index steht.
In Thomas Wagners Buch „Die Angstmacher“ über die Neuen Rechten findet sich auch die Wiedergabe eines Gesprächs mit dem Dramaturgen Bernd Stegemann. Thema sind die Absagen öffentlicher Diskussionen im Jahre 2017 mit als rechts geltenden Protagonisten, so dem Verleger Götz Kubitschek. Solche Veranstaltungen seien „verantwortungslos“, denn sie stärkten die Neue Rechte, hatte es in den Forderungen an die Theater und andere eingeladene Diskutanten geheißen. Stegemann merkt an: „Wir wissen aus der Weltgeschichte, dass Machtstrukturen, die sich unsicher fühlen, immer zu denselben Mitteln greifen. Je ängstlicher ein System ist, desto rigider ist es in seinen Sprechverboten. Umgekehrt gilt: je sicherer sich ein Regime fühlt, desto liberaler geht es mit Meinungsdifferenzen um.“
Das gilt in Leipzig auch für die sich nicht als staatstragend betrachtenden Linksautonomen, die angekündigt haben, „massiven antifaschistischen Widerstand“ zu leisten und rechte Stände auf der Buchmesse verhindern zu wollen. Das ist ein Zeichen nicht nur intellektueller, sondern auch politischer Schwäche. Wem Gedanken und Worte fehlen, der benutzt die Faust. Bei Sieferle heißt es zu diesem Zeitgeist: „Der allumfassende Moralismus kann so als Resultat einer fehlenden politischen Wetterfestigkeit entschlüsselt werden. Es handelt sich weniger um kulturellen Machiavellismus als um moralischen Infantilismus, um das Ergebnis einer umfassenden intellektuellen Verschnullerung im Namen des Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.“