21. Jahrgang | Nummer 6 | 12. März 2018

Herr Meyer legt die Platten auf

von Wolfgang Hochwald

Eine meiner ersten Singles war von den „Beatles“: die deutschen Versionen von „She Loves You“ („Sie liebt dich“) auf der A-Seite und von „I Wanna Hold Your Hand“ („Komm gib mir deine Hand“) auf B. Ich muss damals so um die sechs Jahre alt gewesen sein. Offensichtlich hatten meine Eltern mir sehr früh einen eigenen Plattenspieler geschenkt und damit mein Interesse an populärer Musik unterstützt. Ich muss gestehen, dass unter meinen ersten Schätzen auch „Wärst Du doch in Düsseldorf geblieben“ von Dorthe, „Mama“ von Heintje oder „My Baby Balla Balla“ von „The Rainbows“ waren. Es gab also noch Raum für weitere musikalische Entwicklung. Aus Anlass meines 60. Geburtstags habe ich nun zusammengestellt, welche 150 Lieder mir über die Jahrzehnte am besten gefallen.
Die sechziger Jahre waren die Zeit der Singles, die ich bei „Radio Meyer“ in Köln-Nippes erwarb. Zwischen Waschmaschinen, Fernsehern und Musiktruhen gab es eine Art Bar, an der man auf hohen Hockern saß und sich so etwas Ähnliches wie zwei Telefonhörer an die Ohren halten konnte. Der immer in einen weißen Kittel gekleidete Herr Meyer legte die Platten auf, die man gerne hören wollte. Eine der dort gekauften Singles findet sich in der Liste meiner 150 Songs, nämlich Smokey Robinsons Motown Hit „The Tears of a Clown“. Noch heute sehe ich vor mir, wie ich zu Hause Marlene Dietrichs „Sag mir, wo die Blumen sind“ hörte (1962 veröffentlicht). Da spiegelte sich im Wirtschaftswunderland und in Folge der deutschen Wiederbewaffnung offenbar eine pazifistische Strömung auch im Wohnzimmer meiner Eltern wieder.
Die meisten der Lieder aus den Sechzigern, die mich noch immer begeistern, habe ich aber erst später entdeckt. So die von Andy Warhol ins Leben gerufenen „Velvet Underground“ mit „Iʼm Waiting For The Man“ aus ihrem Debutalbum, für das Warhol das berühmte Bananen-Cover schuf. Und sehr zum Leidwesen von Sänger Lou Reed darauf bestand, dass Nico – mit bürgerlichem Namen Christa Päffgen aus Köln und in den USA erfolgreiches Model – den Gesang bei einigen Liedern übernahm, beispielsweise bei „Sunday Morning“, das mir noch heute den Sonntag verschönt. Harry Nilssons „Everybodyʼs Talking“ wurde mir in den Siebzigern bekannt, als ich erstmals den Film „Midnight Cowboy“ mit der Paraderolle für Dustin Hoffmann als Kleinganove sah.
Gut ein Drittel der 150 Titel stammt aus den siebziger Jahren, als ich zwischen 12 und Anfang 20 war. Die Musik kam damals vornehmlich aus dem Radio. Beim Tischtennisspielen in der Backstube der Eltern meines Freundes Josef lief immer ein Kofferradio mit den aktuellen Hits, von denen ich vor allem Rod Stewarts „Maggie Mae“ in Erinnerung habe. Damals klang darin für uns vor allem der (Alb-)Traum eines Halbwüchsigen mit, von einer älteren Frau geliebt und vereinnahmt zu werden. Inzwischen muss Maggie auf die 90 zugehen, das Lied aber hat nichts von seiner Frische verloren. „Me and You and a Dog Named Boo“ von Lobo weckte die Sehnsucht, die Weite des nordamerikanischen Kontinents einmal zu „erfahren“, mit oder ohne Hund.
Weihnachten 1971 wurde für mich die Ära des Radiorecorders eingeläutet. Wie viele aus meiner Generation saß ich wie gebannt vor dem Gerät, zwei Finger schwebten über den Tasten, um im richtigen Moment gleichzeitig Record- und Play-Taste zu drücken und das gewünschte Stück auf Kassette zu bannen. Eine der ersten Aufnahmen ist heute noch unter meinen 10 Lieblingsliedern aller Zeiten: „Itʼs Too Late“ von Carole King aus ihrem Erfolgsalbum „Tapestry“. Der Song über das Ende einer Beziehung landete auf meiner allerersten Kassette, bevor ich überhaupt einem Mädchen nahe gekommen war.
Seit Mitte der Siebziger begeistert mich die mit inzwischen 71 Jahren immer noch aktive Patti Smith. Ihre Aussage in „Gloria“ auf ihrem 75er Debütalbum „Horses“ war für uns Jugendliche, die in der der katholischen Kirche aktiv waren, im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich: „Jesus died for somebodyʼs sins, but not mine“ (Jesus starb für irgendjemandes Sünden, aber nicht für meine). Aber auch die Romantik kam in meinen Adoleszenz-Jahren nicht zu kurz. Kitschiger und schöner als die Band „Liverpool Express“ kann man einer neuen Liebe jedenfalls nicht „You Are My Love“ ins Ohr raunen. Leider völlig zu Unrecht vergessen ist der 1973 im Alter von 30 Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommene Jim Croce, der gleich mit drei Titeln in meiner Liste vertreten ist. Seine bittersüßen Liebeslieder mit intelligenten Texten, „Operator“, „Time in a Bottle“ und „Iʼll Have To Say I Love You In A Song“ liefen im damals maßgeblichen Radiosender, dem SWF3 Pop Shop, von dessen Qualität im Nachfolgesender SWR3 nichts übrig geblieben ist.
Der für mich prägende Radiomoderator der achtziger und beginnenden neunziger Jahre war Alan Bangs, der insbesondere mit seiner Sendung „Nightflight“ Samstag um Mitternacht auf dem britischen Sender BFBS Radiogeschichte schrieb. Mehr als 20 meiner Top 150 habe ich das erste Mal in Alan Bangsʼ Sendungen gehört, darunter so seltene Stücke wie „Back To You“ vom britischen Folkduo Gay and Terry Woods oder Allen Taylors schwebendes „Misty on the Water“, Stücke, die nicht einmal bei „Spotify“, einem der maßgeblichen Streaming-Dienste, zu finden sind. „Spotify“ ist heute die Quelle für Musik, das Radio hat mit seinem Einheitsbrei lange ausgedient und Musikexperten und Querdenker wie Alan Bangs haben schon lange keine Chance mehr im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Das älteste Lied in meiner Liste stammt aus dem Jahr 1941: In „I Cover the Waterfront“ beobachtet Billie Holiday das Meer und wartet sehnsüchtig auf die Rückkehr ihres Geliebten. 50 Jahre später hat der Bluesveteran John Lee Hooker ein Lied mit gleichem Titel aufgenommen, das Van Morrison mit seiner unverkennbaren Stimme bereichert. Ein wunderbares Duett bilden auch „Wilco“-Sänger Jeff Tweedy und Nikki Sudden in dessen Song „Farewell, My Darling“. Und wenn in Johnny Cashs Version von Bob Marleys „Redemption Song“ „The Clash“ Sänger Joe Strummer ab der zweiten Strophe mit einer wahnsinnigen Energie in das Lied einsteigt, überkommt mich bei jedem Hören eine Gänsehaut.
Neben Marlene Dietrich haben es nur elf weitere Stücke deutscher Interpreten in die Top 150 geschafft, darunter ganz weit oben „Die Höchste Eisenbahn“ mit „Der Himmel ist blau“ oder der für die deutschsprachige Singer-Songwriter-Szene wichtige, aber leider zu wenig gewürdigte Tom Liwa mit drei Liedern („Wovor hat die Welt am meisten Angst“, „Für die linke Spur zu langsam“ und mit seiner Band, den „Flowerpornoes“, der Titel „Eng in meinem Leben“). Der ungleich erfolgreichere Liedermacher Reinhard Mey ist mit „Herbstgewittern über Dächern“ aus dem Jahr 1972 vertreten und hat mit „Gib mir Musik“ so etwas wie das Motto meiner Liste geschrieben.
Bei aller Dominanz der Siebziger und jeweils etwa 25 Songs aus den achtziger, neunziger und 2000er Jahren sind immerhin neun Lieder meiner Liste erst ab 2010 veröffentlicht worden. Herausragend die wegen des plötzlichen Todes von Nils Koppruch nur sehr kurzlebige Band „Kid Kopphausen“ mit „Im Westen nichts Neues“ und das Stück „Elephant“ des amerikanischen Songwriters Jason Isbell über den Krebstod einer Freundin: „We tried to ignore the elephant somehow“ (etwa: Wir haben versucht, das Offensichtliche zu leugnen).
Was ist sonst noch über meine 150 Songs zu sagen? Wer mich kennt, den wundert es nicht, dass Bruce Springsteen mit acht und Bob Dylan mit sieben Liedern vertreten ist. Der Brite Lloyd Cole ist mit vier Stücken von einer einzigen CD dabei, der 2003er Scheibe „Music in a Foreign Language“. Es gibt sehr bekannte Stücke wie „Letʼs Get It On“ von Marvin Gaye, „Both Sides Now“ von Judy Collins oder „Smooth Operator“ von Sade – und sehr seltene wie „Big Deal“ von Damien Jurado, „Return to Sender“ von „Mojave 3“, „Roll On Babe“ von Ronnie Lane oder „Easy Come, Easy Go“ vom Australier Grant McLennan, Mitglied der „Go-Betweens“. Wer wird sie irgendwann noch hören? Für Lane (gestorben 1997) und McLennan (2006 verstorben) haben ihre Geburtsorte jedenfalls schöne Zeichen gegen das Vergessen gesetzt. In Plaistow (East London) ist die „Ronnie Lane“ (Lane = Gasse/Weg) nach dem Musiker benannt und McLennans Geburtsort Brisbane schmückt seit 2010 eine Brücke, die Go Between Bridge.
Singles, LPs, Radio, selbst aufgenommene Kassetten, der Walkman, selbst gebrannte CDs, das Internet – der Weg zur Musik hat sich in 60 Jahren verändert, aber es wird immer wieder Musik geben, die mich bewegt. Deshalb Wiedervorlage in zehn Jahren: Ich bin gespannt, wie meine Liste der Top 150 dann aussieht.