21. Jahrgang | Nummer 4 | 12. Febuar 2018

Zirkelei

von Bernhard Romeike

5. Februar 2018.
War was?
Eigentlich nichts Besonderes. Im Lande herrscht Merkels Ruhe. Die GroKo-Verhandler verhandelten vor sich hin. In der Welt fanden die inzwischen längst wieder üblichen Kriege statt, ohne dass dies hierzulande für besondere Aufregung sorgte. In Kapstadt wurde das Wasser knapp.
Einige Medien versuchten, aus dem Tag eine „historische Zäsur“ zu machen. Stichwort: „Zirkeltag“. Dieser Montag sei „Zirkeltag“. Meinte: Die Mauer stand exakt 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage, und es war an diesem 5. Februar exakt 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage her, dass die Mauer fiel. Da war sie nun also solange fort, wie sie stand. Am 13. August 1961 der Mauerbau, am 9. November 1989 die Maueröffnung, am 5. Februar 2018 – Zirkeltag.
Und der 9. November als Mittelpunkt des Zirkelschlags? Höhepunkt der Demonstrationen im Herbst 1989 war die mit 700.000 Teilnehmern am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz. Die SED-Führung mit Egon Krenz an der Spitze versuchte, die Verhältnisse zu stabilisieren, aber der politische Druck im Lande verstärkte sich. Vom 8. bis 10. November 1989 tagte das Zentralkomitee der SED, um über die Lage zu diskutieren. Zum neuen Stil gehörte, dass Politbüromitglied Günter Schabowski auf abendlicher Pressekonferenz über die Ergebnisse der ZK-Tagung berichtete und Fragen von Journalisten beantwortete. So kam es zu der berühmten Pressekonferenz am 9. November 1989, die vom DDR-Fernsehen live übertragen wurde. Schabowski machte um 18.53 Uhr „nebenbei“ die Mitteilung, die SED-Spitze habe eine Entscheidung getroffen, die „die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik“. Dann verlas er die neue Reiseregelung. Ab wann die gelte, wurde er gefragt? „Sofort, unverzüglich“, lautete die berühmte Antwort.
Die Nachrichtensendungen des westdeutschen Fernsehens, das von den meisten DDR-Bürgern gesehen werden konnte, brachten diese Mitteilung, die ARD-„Tagesschau“ um 20:00 Uhr als Spitzenmeldung. Um 20:15 Uhr begannen sich die ersten Berliner an den Grenzübergängen zu sammeln: Sonnenallee – acht bis zehn Menschen, Invalidenstraße – zwanzig, Bornholmer Straße – etwa fünfzig. Dort drängte gegen 21:00 Uhr bereits eine Menschenmenge; die ersten wurden 21:20 Uhr „kontrolliert” nach Westberlin gelassen. Gegen 22:30 Uhr waren wegen des Ansturms Kontrollen nicht mehr möglich. „Wir fluten jetzt“, meldete der zuständige Kommandeur des Übergangs Bornholmer Straße seinen Vorgesetzten. Die zuständigen Politbüromitglieder, Minister und Generäle, die alle an der ZK-Tagung teilgenommen hatten, waren nicht etwa alarmiert und saßen unter Hochspannung in ihren Stäben, wie beim Bau der Mauer 1961, sondern ruhten sich zu Hause von der anstrengenden Sitzung aus. Von „revolutionärer Wachsamkeit“ konnte jedenfalls nicht mehr die Rede sein.
Die Offiziere vor Ort hatten keine Befehle, und entschieden, keine Gewalt anzuwenden, wie auch gegen alle Demonstranten seit dem 9. Oktober keine Gewalt angewendet worden war. Die Berliner hatten die Mauer aufgedrückt, ohne auf Genehmigungen der Behörden zu warten. Aus „Wir sind das Volk“ wurde in der Folgezeit „Wir sind ein Volk“. Am Ende stand die deutsche Vereinigung.
Der „Zirkeltag“ sollte dazu dienen, gerade diese wieder einmal zu feiern, nicht „nur“ zum obligaten 9. November eines jeden Jahres, sondern zwischendurch. Von „unsichtbarer Hand“ gelenkt oder aus journalistischem Eifer? Wie groß das Ereignis aufgemacht werden sollte, machte der Sender RBB deutlich. Mit einem „Zirkeltag-Countdown“ wurden die Tage heruntergezählt, als ginge es „um Ostern und Weihnachten auf einen Tag“, wie ein alter Berliner Spruch heißt. Es gab ein „Zirkeltag-Gewinnspiel“ und „Zirkeltag-Sondersendungen“. Die Berliner Zeitung brachte zum Wochenende vor der „Zäsur“ eine ausführliche Spezialausgabe und präsentierte Umfrageergebnisse, wonach 81 Prozent der Berliner angeblich angaben, Herkunft aus Ost und West spiele für sie keine Rolle mehr, und 62 Prozent meinten, die Mentalitätsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen würden verschwinden.
Hier sollte noch einmal an jene Sozialwissenschaftler erinnert werden, die der Mainstream totschweigt. Der großartige französische Soziologe Pierre Bourdieu hatte schon Anfang der 1990er Jahre in einem Vortrag in Berlin (übrigens an einem 3. Oktober) ausgeführt, dass seine empirischen Studien in Frankreich ergeben hätten, dass sich die mentalen Unterschiede zwischen Gegenden, die nach der französischen Revolution von 1789 auf Seiten der Republik standen, und solchen, die damals royalistisch waren, noch immer ausmachen ließen. Und da war die Rede von fast 200 Jahren. Warum sollte Vergleichbares in Deutschland schneller gehen? Nur deshalb, weil die Deutschen im 20. Jahrhundert sechs verschiedene politische Systeme am Laufen gehalten hatten?
In Berliner Debatte Initial hatte der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Marc Alan Howard 1995 begründet, dass die Ostdeutschen als „ethnische Gruppe“ innerhalb Deutschlands gefasst werden sollten. Dietrich Mühlberg hatte ebenfalls bereits in den 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass sich ethnische Gruppen vor allem in ihrem Heiratsverhalten zeigten: Solange Ostdeutsche überwiegend Ostdeutsche heirateten, reproduzierte sich die ethnische Gruppe. Angesichts der vermachteten Überformung der ostdeutschen Gesellschaft (kein Ossi ohne einen West-Chef!) hatte diese keine Chance, ihre Erfahrungen in der DDR, in der Wende und danach in einer eigenen Öffentlichkeit zu verhandeln. Es war immer die gesamtdeutsche, von Westdeutschen dominierte Öffentlichkeit, in der die Probleme der Ostdeutschen zur Sprache kamen. Und hier wurden sie als Querulanten, Einfaltspinsel, Nostalgiker und undankbar denunziert.
Im Zusammenhang mit dem Zirkeldatum kritisierte die Journalistin Jana Hensel im Deutschlandfunk, dass von Ostdeutschen immer noch Anpassung an den Westen gefordert werde. Die hätten in den Jahren seit dem Mauerfall im Osten aber ganz grundlegend andere Erfahrungen gemacht als die Westdeutschen. Dennoch gelte Westdeutschland immer noch als Nenngröße, der sich die Ostdeutschen anzupassen hätten. Das hätten viele im Osten satt.
Zugleich wies Hensel den Vorwurf zurück, in Ostdeutschland gebe es mehr Fremdenfeindlichkeit. Rassismus wende sich in den neuen Bundesländern vielmehr auch gegen das politische System. „Der Rassist in Ostdeutschland geht auf die Straße“, der im Westen nicht. Das sei ein Mittel, „gegen Angela Merkel, gegen ‚die da oben‘ zu demonstrieren“. Hensel sprach von „ganz anderen mentalen Gemengelagen“ in beiden Teilen Deutschlands. „Wir haben viele Phänomene, die wir in Ost und West gleichermaßen finden, nur fühlen sie sich anders an, sie haben eine andere Identität und werden anders in diese Gegenwart hineingestellt“. Oder, wie es unter anderem bei Rainer Land heißt: Der Punkt seien die unterschiedlichen „kulturellen Codes“, mit deren Hilfe die Menschen die Welt zu verstehen suchten.
Nachdem die AfD bei der Bundestagswahl 2017 in Sachsen stärkste Partei geworden war, noch vor der CDU, hatte es auch im Mainstream – in Politik, Sozialwissenschaft und Medien – einige Versuche gegeben, die jahrelang verkleisterten Ost-West-Unterschiede wirklich zu verstehen. Der Zirkelschlag sollte offenbar dazu dienen, diesen Ansatz rasch wieder beiseite zu schieben.