von Wilfried Schreiber
Wer etwas genauer wissen möchte, wie Militärs „ticken“, sollte dieses Buch in die Hand nehmen. Vom Titel her geht es um das „operative Denken in der NATO“, wie es in den 1980er Jahren üblich und gültig war. Tatsächlich macht es aber auch auf konzeptionelle Übereinstimmungen zum damaligen Verständnis der Organisation des Warschauer Vertrages für die Führung eines Krieges in Zentraleuropa aufmerksam. Der Autor ist ein ausgewiesener Fachmann für beide Seiten. Siegfried Lautsch ist Absolvent der sowjetischen Frunse-Militärakademie und war von 1983 bis 1987 Leiter der Abteilung Operativ des Militärbezirks V (5. Armee) der NVA und danach Unterabteilungsleiter im Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR. Ab Ende 1990 diente er bis zu seiner Pensionierung 2007 in der Bundeswehr – unter anderem an der Führungsakademie in Hamburg, im Heeresamt und im Zentrum für Verifikationsaufgaben. Da der Autor aus seiner Biographie und seinen persönlichen Erfahrungen kein Geheimnis macht, hat das Buch den Vorzug einer hohen Authentizität. Die wird ausdrücklich von General a.D. Helge Hansen – 1994-96 Befehlshaber des NATO-Bereichs Europa Mitte – in seinem Vorwort bestätigt. Damit erhält das Buch gewissermaßen den Segen eines prominenten Militärs der Bundesrepublik.
Lautsch beschreibt den Job des militärischen Kommandeurs als ein solides Handwerk, letztlich sogar als eine Wissenschaft oder Kunst, die durch klare Vorschriften geregelt ist. Als ehemaliger Offizier der Landstreitkräfte stützt sich der Autor insbesondere auf die US-Heeresdienstvorschrift FM 100-5, die Heeresdienstvorschrift der Bundeswehr HDV 100-100 sowie die „Operativen Leitlinien des deutschen Heeres“ – alle in den jeweils letzten Fassungen der 1980er Jahre. Im Mittelpunkt seiner Analyse steht die Führungsebene für eine militärische Operation. Es geht um Handlungen einer ganzen Armee, respektive von Heeresverbänden und deren komplexes Zusammenwirken mit anderen Teilstreitkräften im Falle eines Krieges gegen die Truppen des Warschauer Vertrages. Dementsprechend stehen solche Elemente des Kampfes wie Initiative, Wendigkeit, räumliche Tiefe und Synchronisation der Kampfhandlungen im Vordergrund seiner Betrachtungen. All das sind zugleich wesentliche Faktoren für den militärischen Erfolg – also für den Sieg auf dem Gefechtsfeld. Insofern widmet der Autor seine besondere Aufmerksamkeit der Rolle von Angriffsoperationen. Quasi lehrbuchhaft werden alle Bestandteile einer militärischen Operation aus der Sicht eines von der sowjetischen Militärwissenschaft geprägten Fachmanns analysiert.
Dabei empfindet es der Autor als einen ernsten Mangel, dass der Begriff der militärischen Operation in den NATO-Vorschriften nicht eindeutig definiert ist und die NATO-Verbündeten in dieser Frage letztlich keine einheitlichen Positionen hatten und haben, was auch zu Reibungsverlusten in der militärischen Praxis geführt habe.
Für den Leser ist es sehr hilfreich, wenn der Autor dabei auch einen Vergleich mit entsprechenden Strukturen und Vorstellungen in den Streitkräften der Organisation des Warschauer Vertrags anstellt. Lautsch verweist mehrfach auf Ähnlichkeiten, die in der Sache durchaus bestanden, nicht aber in der Begrifflichkeit. Insofern ist für das Verständnis dieser Ähnlichkeiten ein Dokumentenanhang „Militärterminologie im Vergleich“ sehr nützlich.
Von grundsätzlich politischer Bedeutung dieser vergleichenden Betrachtung ist die Schlussfolgerung des Autors, dass weder der Osten noch der Westen „ wirklich die Absicht [hatte], die Gegenseite anzugreifen. Beide Militärblöcke hatten Verteidigungsdoktrinen. […] Das Risiko einer Intervention war unbegründet. Mit anderen Worten, die Kontrahenten waren berechenbar. Die Androhung militärischer Gewalt galt eher als Machtmittel gegenüber der Gefahr politischer Erpressbarkeit.“
Man möchte das gern glauben, fragt sich aber nach wie vor, was wohl passiert wäre, wenn politische Vernunft und Deeskalationsinstrumentarien versagt hätten. Dem Rezensenten läuft es noch heute kalt den Rücken herunter, wenn er die von Lautsch dargestellten Planungsoptionen für einen Nuklearkrieg auf deutschem Boden zur Kenntnis nehmen muss. Demnach waren „im Verlauf des Ost-Westkonflikts […] drei Atomminengürtel mit etwa 5.800 Sprengschächten über das gesamte Territorium der Bundesrepublik Deutschland vorbereitet“. Da sind die aktiv einsetzbaren nuklearen Bomben und Granaten, die von beiden Seiten vorgehalten wurden, noch gar nicht erfasst. Es ist wenig trostvoll zu wissen, dass die reale Verfügung über Kernwaffen in der Hand der USA lag – wie im Osten in der Hand der Sowjetunion. Es genügt zu wissen, dass die Gefahr eines Nuklearkrieges in Europa bis heute nicht gebannt ist und nach wie vor Atombomben auf deutschem Boden lagern.
Bei einer Bewertung des Buches kommt es auf die Provenienz des Lesers an. Für Historiker dürfte es am ehesten ein zeitgeschichtliches Dokument zur Analyse der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges sein. Militärs mögen darin eine fachlich kompetente Auseinandersetzung über das militärische Denken in den 80er Jahren sehen und eventuell auch Denkanstöße für die Führung moderner oder postmoderner Kriege erhalten. Dabei kann es keinen Zweifel geben: Das Kriegsbild der 80er Jahre gibt es nicht mehr. Die Zeit der Massenheere und Panzerschlachten ist vorbei. Dem besorgten Bürger ermöglicht das Buch einen Einblick in die nüchterne, pragmatische und weitgehend unpolitische Denkweise höherer Militärs. Insofern wird er es eher als Mahnung verstehen und Warnung vor dem, was noch kommen könnte.
Das Buch ist in einer flüssigen, verständlichen Sprache geschrieben. Zahlreiche Skizzen, Abbildungen und ergänzenden Dokumente machen es auch für den Laien lesbar. Der kritische Leser vermisst jedoch trotz der 287 Fußnoten ein geschlossenes Literaturverzeichnis. Zahlreiche Flüchtigkeitsfehler deuten auf eine oberflächliche Lektorierung hin, die aber nicht dem Autor anzurechnen ist.
Siegfried Lautsch: Grundzüge des operativen Denkens in der NATO – Ein zeitgeschichtlicher Rückblick auf die 1980er Jahre, Carola Hartmann Miles-Verlag 2017, 252 Seiten, 24,80 Euro.
Schlagwörter: NATO, Siegfried Lautsch, Wilfried Schreiber