21. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2018

Bilder einer Ausstellung

von Frank-Rainer Schurich

Modest Mussorgski schuf 1874 ein einzigartiges Werk für Klavier, das Maurice Ravel in eine virtuose Orchesterfassung verwandelte und heute auf der ganzen Welt gespielt wird: „Bilder einer Ausstellung“, englisch „Pictures at an Exhibition“.
Das siebente geniale Klangbild heißt Der „Marktplatz von Limoges“. Man hört das lebhafte Geschwätz der Klatschbasen, zum Schluss Geschrei, das jäh abbricht. Was war passiert? War ein Exhibitionist aufgetaucht? Entsetzen oder Erstaunen? Oder beides? Damit sind wir schon bei der Sprachwurzel des Wortes „Exhibition“, das aus dem Lateinischen kommt und Vorzeigen oder Zurschaustellen bedeutet. Wie eben Gemälde in einem Museum.
In der Kriminologie und Kriminalistik (und in anderen Wissenschaften) ist dagegen der Exhibitionismus eine krankheitswertige, neurotische, jedenfalls nicht normgerechte und auf sexuellen Lustgewinn gerichtete Neigung zur Entblößung der Geschlechtsteile in Gegenwart fremder Personen. Da fast nur Männer als Exhibitionisten auffallen, ist also das weibliche Geschlecht regelmäßig das Opfer dieser sexuellen Attacken. Exhibitionisten werden in der Kurzform schlicht und einfach Entblößer genannt, aber auch Aufknöpfer, Schlitz- oder Brieföffner, 183er (Auflösung folgt) und Vorführer.
Die Kriminalisten wissen, dass Frauen als Opfer sehr unterschiedlich mit einer exhibitionistischen Situation umgehen. Es scheint ein hohes Dunkelfeld zu geben, weil oftmals keine Anzeige erstattet wird. Viele Opfer sind geschockt, traumatisiert und haben Schwierigkeiten, das Erlebte zu verarbeiten. Sie meiden dann zum Beispiel den Park, in dem ihnen der Entblößer auflauerte.
Es gibt aber auch Frauen, die ruhig und entspannt von einem solchen Erlebnis berichten. Eine über 80-jährige Frau aus Biesdorf-Süd in Berlin erklärte vor Jahren dem vernehmenden Kriminalisten, dass das schon ein komisches Gefühl war, plötzlich das Geschlechtsteil eines Mannes zu sehen. „Es war schon schlimm, aber“, so fügte sie hinzu, „so etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“
Dass das Zusammentreffen mit einem Exhibitionisten auch Gedankenprozesse beflügeln kann, ist durch einen uralten Witz bekannt – auch der Hirnforscher Gerald Hüther erweckte ihn vor ein paar Jahren in einem Vortrag zum populärwissenschaftlichen Leben: Mitten in der Woche kündigt sich bei einer jungen Familie mit Kindern plötzlich Besuch an, und die werktätige Ehefrau eilt nach Feierabend in den Supermarkt, um für die unerwarteten Gäste etwas Besonderes einzukaufen. Auf dem Rückweg, es war zwischenzeitlich dunkel geworden, nimmt sie die Abkürzung durch einen kleinen Park, und schon nach ein paar Metern stürzt beim müden Lichtschein einer Parkbeleuchtung ein Mann aus dem Gebüsch, der sein Gemächt zur Schau stellt. Unbeeindruckt betrachtet die Frau das Bild dieser Ausstellung, und nach kurzer Zeit sagt sie leise vor sich hin: „Ach, ich habe die Schrimps vergessen.“
Natürlich, Exhibitionismus ist eine Straftat (§ 183 Strafgesetzbuch, daher 183er). Angedroht werden Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Die Tat wird aber nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass ein gewisses öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Zu früheren Zeiten wurden Exhibitionismus und Urinieren vor Frauen mit zwei Gulden bestraft, was damals eine Menge Geld war. Die Strafe nannte man übrigens Freveltaxe, zum Beispiel im unteren Elsass um 1650. Da sich Wildpinkeln zu einem Massenmännersport entwickelt hat, könnte der Staat, wenn er denn helle wäre, viel Geld einnehmen, um den Staatshaushalt zu sanieren und noch ein paar Milliarden in den Berliner Zukunftsflughafen BER stecken zu können.
Zum Schluss zwei Fälle aus der Polizei- und Gerichtspraxis. Den Kürzeren zog Ende Oktober 1994 ein Exhibitionist in einem Braunschweiger Park. Der alarmierte Polizist war sehr klug. Er suchte nicht den Täter, sondern dessen komplett abgelegte Kleidung. Als er diese gefunden hatte, war dem Ganzkörper-Entblößer eine Flucht schlechterdings nicht mehr möglich.
Manchmal ist aber auch nur das Zeigen des nackten Hinterteils ein schwerwiegender exhibitionistischer Vorgang, auch wenn er nicht auf Lustgewinn abzielt. Im Oktober 1997 musste sich ein Gericht in Salzburg mit einem solchen Fall beschäftigen. Junge deutsche Urlauber hatten anno 1995 vor dem Ferienhaus des Bundeskanzlers Helmut Kohl in Österreich ihre nackten Hintern so gezeigt, dass Hannelore und Helmut die Vorstellung wie in der ersten Reihe oder standesgemäß in der Loge mitbekamen. Sie erstatteten Anzeige, und die jungen Urlauber wurden in erster Instanz zu 4400 Schilling (damals rund 570 Mark) oder ersatzweise sechs Tage Haft verurteilt. Sie lehnten kollektiv die Geldstrafe und Ersatzhaft ab und gingen in die zweite Instanz. Bevor sich das Berufungsgericht vertagen konnte, stellte einer der Angeklagten den Antrag, Kohl und seine Frau als Zeugen zu hören, denn ihnen sollen ja die Urlauber am Wolfgangsee die bloßen Hinterteile gezeigt haben. Und es interessiere schon, wie die beiden Geschädigten die Vorstellung fanden. Wie die Sache dann letztlich ausgegangen ist, konnte leider nicht ermittelt werden.
Ob auf dem Marktplatz zu Limoges auch ein Exhibitionist aktiv war, wissen wir ebenfalls nicht. Aber vorstellbar wäre das schon. Man muss eben nur genau hinhören, wenn man der grandiosen Musik von Mussorgski und Ravel lauscht.