21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Quasi un Capriccio

von Angelika Leitzke

Es gibt ein Klavierstück Ludwig van Beethovens, „Alla Ingharese quasi un Capriccio“, das dieser im Alter von etwa 25 Jahren schrieb. Besser bekannt unter dem Titel „Die Wut über den verlorenen Groschen“: ein in G-Dur komponiertes, lebhaft-launisches Rondo mit virtuosem Anspruch an den ausführenden Pianisten, weswegen es auch auf der Beaufort-Skala für Klaviermusik ziemlich weit oben rangiert. Womöglich hatte der junge Beethoven, der damals gerade aus dem von den Franzosen besetzten Rheinland nach Wien geflohen war, auf seiner Reise tatsächlich ein paar Groschen verloren, was ihn nicht nur zu dem Ausruf „un disastro!“ hinriss, sondern musikalisch zu einem Stück inspirierte, das sich bis heute unter den „top hundred“ der klassischen Musik befindet.
Nun kann man nicht nur Groschen, das heißt Geld, verlieren, sei es auf der Straße, im Spielcasino oder beim Geschäftemachen. Zum Verlust-Desaster hat sich inzwischen der Flughafen Berlin – Brandenburg BER, im Volksmund auch B€R geheißen, gemausert, vergleichbar fast dem Brexit-Desaster, nur unter anderen Vorzeichen: ein Milliardengrab, an dem allein der deutsche EU-Bürger und -Steuerzahler unversehens mit schaufelt.
Dieser kann, ob er nun Steuern blecht oder nicht oder sie in ein fernes Paradies verschiebt, allerlei verlieren: neben Hirn und Herz auch die obligatorischen Schirme, Mützen und Handschuhe nebst guten Hoffnungen und Freunden oder dem Ehegespons. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Ebenso können aber auch Dax und Dollar verlieren, der Fußballstar bei der UEFA Champions League, man kann beim Duell und beim Mensch-Ärgere-Dich-Nicht verlieren und sein Ansehen wie sein Aussehen, wenn man Frau Merkel in aller Öffentlichkeit eine blöde Kuh schimpft, weil sie womöglich in der Flüchtlingskrise verloren hat, und dann von Merkel-Anhängern ein paar faule Tomaten ins Gesicht geschmissen bekommt.
Den Verlierer-Gipfel erreicht der Verlust an Leib und Leben, getoppt noch dadurch, wenn dieser durch einen Kudamm-Raser verschuldet wird, der ungeniert ein paar unschuldige Leute zu Tode fährt. Nicht zu unterschätzen ist aber auch der Verlust von Arm oder Bein, Augenlicht oder Gehör, generiert durch Unfall, Ärztepfusch oder durch eine böse Laune der Natur oder falsches Rauchverhalten. Der Hörverlust hinderte allerdings Beethoven, nun bereits 28 Jahre alt, nicht daran, bis zu seinem Tod noch neun Sinfonien und einiges mehr zu komponieren. Verlieren muss demnach auch eine positive Komponente im Sinne des Gewinnens haben. Woraus auch B€R lernte.
Auch vor Gericht lässt es sich leicht verlieren, ebenso wie man Chancen auf einen besseren Job oder mehr Gehalt verlieren kann, wenn man wie Beethoven unter fortschreitender Taubheit laboriert, aber trotzdem nicht Beethoven heißt. Überdies kann man neben seinem Gewicht auch sein Gesicht verlieren – wie der B€R. Zwar lässt sich darüber diskutieren, ob ein Flughafen als solcher überhaupt Gesicht haben kann. Doch vielleicht hat der Airport Berlin-Tegel, klein, aber fein, wenn auch überholungsbedürftig, ein netteres Gesicht als der Großflughafen Frankfurt am Main oder der noch nicht zum Leben erwachte B€R, der umso mehr an Gesicht verliert, je weiter sich seine Eröffnung in unbekannte Ferne verlagert. Immerhin zeigt der B€R insofern Gesicht, wenn auch kein schönes, dass er auch einige Gewinner zeugte und zeugt. Also muss, so die Logik – wie schon bei Beethoven, auch jedes Verlieren sein Gegenteil in sich bergen, was natürlich nicht heißen soll, die B€R-Gewinner zum Vorbild für Nachahmungstäter zu machen. Es könnte wiederum zu deren Gesichtsverlust führen.
Wie sangen doch die Beatles vor über einem halben Jahrhundert? „I’m a loser“. Den Höhepunkt ihrer Popularität hatte die berühmteste Pop-Gruppe der Welt damals noch gar nicht erreicht – wie Beethoven, als er sein „quasi un Capriccio“ schrieb.