21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Die Katastrophe des Ballons „Pommern“

von Dieter Naumann

„Nach der Katastrophe des Ballons ‚Pommern‘. Bergung der Ballonreste in Sassnitz“ lautet die Erklärung auf der Rückseite einer 1912 per Bahnpost beförderten Karte.
Was war geschehen? Am 3. April 1910 startet der Ballon „Pommern“ vormittags in Stettin mit dem Ballonführer Dr. phil. Werner Hugo Wilhelm Delbrück zusammen mit drei Mitfahrern. Delbrück, damals 42-jährig, war Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis „Regierungsbezirk Stettin 2 Ueckermünde und Usedom-Wollin“ sowie für die „Freisinnige Vereinigung“, Kreistagsabgeordneter von Usedom-Wollin, Gemeindevertreter von Heringsdorf und seit 1899 Direktor der „Aktien-Gesellschaft Seebad Heringsdorf“. Die AG war 1872 durch seinen Vater Dr. Hugo Delbrück und seinen älteren Bruder Dr. Adelbert Delbrück mit einem Kapital von 150.000 Talern gegründet worden, kaufte Grundstücke auf und ließ auch Kurhaus und Spielkasino sowie von 1891 bis 1893 die zunächst  400 Meter lange, später auf 500 Meter erweiterte Kaiser-Wilhelm-Seebrücke bauen, deren Holzkonstruktion 1958 einer Brandstiftung zum Opfer fiel. Neben Damen, Herren- und Familienbadeanstalt, zahlreichen Hotels und Pensionen entstanden auch kommunale Einrichtungen für die Wasserversorgung, später auch für die Elektrifizierung des Ortes, sowie Straßen und der Anschluss an das Reichsbahnnetz. Werner Delbrück lässt nach dem Tod seines Vaters 15 Tennisplätze anlegen, Pferderennen veranstalten und den 41 Meter hohen Bismarck-Turm bauen, der wegen seiner Verwendung als Flakturm nach dem Krieg gesprengt wurde.
Delbrück ist jedoch vor allem eins – ein begeisterter Ballonflieger und als solcher seit 1902 Mitglied des Deutschen Luftschifferverbandes in Berlin und des 1908 gegründeten Pommerschen Vereins für Luftschifffahrt. Delbrück gelang es sogar, die Flugpioniere Wilbur (1867–1912) und Orville Wright (1871–1948), die Demonstrationsflüge in Berlin-Tempelhof durchführten, nach Heringsdorf zu holen. 1909 präsentierten sie ihr Motorflugzeug „Flyer“ (auch „Flyer 1“ oder „Kitty Hawk“ genannt) zur Begeisterung der Heringsdorfer und ihrer Gäste auf der Pferderennbahn bei Gothen, einem Ortsteil von Heringsdorf.
In seinem Heringsdorfer Haus in der heutigen Breitscheidstraße soll er – so einige Gerüchte – in einem vom Dach bis in die zweite Etage durchgehenden Schacht seine Ballone zur Lagerung aufgehängt haben und sogar gelegentlich vom Dach zu Ballonfahrten gestartet sein.
Belegt ist, dass Delbrück noch wenige Tage vor der verhängnisvollen Ballonfahrt in der 46. Sitzung des Reichstages am 2. März 1910 als Reichstagsabgeordneter dafür eingetreten war, eine Luftschiffversuchsanstalt zu gründen, die Materialprüfungen, Kontrolle und Tests von Luftschiffen und „Äroplanen“, die Erforschung des Einflusses der „Luftelektrizität“ und die Beförderung der Nutzung der „Funkentelegraphie“ durch die Luftschiffer zur Aufgabe haben sollte.
Mit Delbrück sind der 1853 geborene Kaufmann Theodor Heyn, Inhaber eines „Kolonialwaren- und Heringsgeschäfts en gros“ und Eigentümer des „Rosengarten“-Bades in Stettin, der Prokurist der 1900 gegründeten Stettiner Filiale der Darmstaedter Bank, Johannes Semmelhack, und der 1859 geborene Stettiner Stadtbaurat Karl Benduhn im Korb des Ballons. Heyn und Semmelhack waren ursprünglich gar nicht als Teilnehmer der Ballonfahrt vorgesehen: Der Stadtverordnete Ahrens musste jedoch wegen einer leichten Erkrankung absagen, woraufhin Brauereibesitzer Borisch ebenfalls verzichtete.
Obwohl ein angefordertes Wettertelegramm der Wetterwarte Lindenberg nicht eingetroffen ist und Heyn und Semmelhack sich tags zuvor extra für den Flug versichern lassen hatten, ist bei den Ballonfahrern keinerlei Zeichen von Angst zu sehen, warum auch? Delbrück ist kein Abenteurer, sondern bereitet seine Ballonfahrten stets akribisch vor, der vereinseigene Ballon „Pommern“ hat schon mehrere erfolgreiche Fahrten hinter sich.
Der bevorstehende Ballonstart nahe der Gasanstalt im Ortsteil Stettin-Zabelsdorf (heute Niebuszewo) ist natürlich das Ereignis des Tages und lockt zahlreiche Zuschauer zum Startplatz. Vermutlich herrscht regelrechte Volksfeststimmung. Die Begeisterung der Zuschauer weicht aber bald dem blanken Entsetzen, als der Ballon kurz nach dem Aufstieg erst mit Telegrafendrähten und danach mit dem Kühlgestänge und einem Schornstein auf dem Dach der Firma „Neubauer & Wilke, Generalvertreter Süddeutscher und Pilsener Brauereien“ in Zabelsdorf kollidiert. Der Aufprall ist so stark, dass nicht nur einige der Gondeltaue zerreißen und Teile des Kühlgestänges sowie der Schornstein der Firma zerstört werden, sondern die Insassen schwere Kopfverletzungen, auch Bein- und Armbrüche davontragen.
Semmelhack, der einzige Überlebende der Katastrophe, schildert das Ende der dreistündigen Horrorfahrt am 4. April in einem Zeitungsinterview. Das Netzwerk des Ballons wäre bis über die Hälfte zerrissen, so dass er drohte, aus dem Netz herauszurutschen. Ein aufkommender Sturm trieb den Ballon mit rasender Geschwindigkeit nach Nordwesten. Als Delbrück kurzeitig aus seiner Ohnmacht erwachte und das Ablassventil des Ballons öffnen wollte, um ein Abtreiben auf die offene See zu verhindern, wäre das Zugseil gerissen. In der Nähe von Rügen geriet der Ballon in Turbulenzen und wurde bis auf 50 Meter heruntergedrückt. Delbrück riss jetzt die Reißbahn und der Ballon sei nun etwa 500 Meter von Sassnitz entfernt mit furchtbarer Gewalt auf das Wasser aufgeschlagen. Allen Insassen gelang es zunächst, sich aus dem beschädigten Ballonkorb zu befreien. Bis auf Semmelhack versank jedoch einer nach dem anderen in der Ostsee. Semmelhack selbst gelang es trotz eines Beinbruchs mit letzter Kraft schwimmend die Ballonhülle zu erreichen, von der er schließlich von zu Hilfe eilenden Fischern gerettet werden konnte.
Kaufmann Heyn wird sofort tot geborgen, seine Schwester erhält später die vereinbarte Versicherungssumme in Höhe von 30.000 Mark durch die Kölnische Unfallversicherung. Die Gondel des Ballons wird gefunden, jedoch ohne die Leichen von Benduhn und Delbrück. Einen Tag später findet der Fischer Blum die Leiche von Stadtbaurat Benduhn, die schwere Kopfverletzungen sowie Arm- und Beinbrüche aufweist. Fischer und die Besatzungen mehrerer Torpedoboote setzen die Suche nach Delbrück fort. Erst am 16. April findet der hinzugezogene Taucher Lunck zwischen den Steinen in der Nähe der Absturzstelle die mit schweren Kopfverletzungen versehene Leiche des Reichstagsabgeordneten. Einer früher getroffenen testamentarischen Verfügung folgend, nach der er dort beerdigt werden wollte, wo er einmal verunglücken werde, wird sein Leichnam einen Tag später im Beisein von Angehörigen und Vereinskollegen vom Dampfer “Moltke” aus dem Meer übergeben.
Semmelhack ist nach seiner Rettung „des Lobes voll über die gute Aufnahme in Saßnitz, über die liebevolle Behandlung von seiten des Besitzers des ‚Hotel am Meer‘ und der Fischer, die ihn gerettet hatten“ (Rügensches Kreis- und Anzeigeblatt vom 6. April 1910).
Das Ereignis wird auch von ausländischen Zeitungen und Zeitschriften erschüttert kommentiert, Semmelhack muss Interviews geben, Grafiker lassen ihrer Fantasie freien Lauf bei der Illustrierung der Berichte. So veröffentlicht die Pariser Zeitung Le petit Journal am 17. April 1910 auf der letzten Seite ihrer Beilage „Supplément illustré“ eine Grafik mit der Bildunterschrift „Deutscher Ballon ‚Pommern‘ stürzt in die Ostsee – drei Passagiere gestorben“. Da es keine Augenzeugen für den Absturz gab, wird „wenigstens“ die durch Sassnitzer Fischer vorgenommene Bergung der Reste des Ballons als Ansichtskartenmotiv nach Vorlagen des Sassnitzer Fotografen A. Bönki vermarktet.