20. Jahrgang | Nummer 26 | 18. Dezember 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal das Geburtstagskind Alfred Kerr, der Romancier Ilija Trojanow und ein Goethe-Wort zum Jahresschluss …

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Berliner Tageblatt, 1. März 1925. Über „Coriolan“ von Shakespeare: „Dieses Stück hat für die Schwächeren den Nachteil, Ideen zu bieten. Für die Anderen den Nachteil, falsche Ideen zu bieten. In der Mitte kann – ich empfehle das – die Behauptung schwimmen, es handele sich gar nicht um Ideen, sondern um Leidenschaft. Die wäre der Ausweg. Wider den sich höchstens einwenden ließe, dass er falsch ist.“
Würde unsereins heutzutage, falls einem denn derart Geistreiches einfiele, mit solchen Sätzen eine Theaterkritik starten, tippte sich die Redaktion wohl an den Kopf. Zu kryptisch.
Alfred Kerr, sein Pseudonym wurde zum Synonym für Theaterkritik überhaupt (tatsächlich heißt er Alfred Kempner), schreibt wie sein Name klingt: Sätze wie Schüsse. Und jeder Schuss ein Kunststück. Fast immer ins Schwarze treffend. Manche freilich nehmen von den Kerrschen Salven nur die Knallerei wahr: Krr, Krr. Von römisch eins bis XV durchkapitelt.
Der Autor – Wahlspruch: „Das Knappere“ – pflegte nämlich seine Schießerei durchzunummerieren. Römisch. Möglichst kurze Sätze jeweils (wird einem auch heute auf jeder Journalistenschule eingehämmert). Das rahmt, um vom Militärischen endlich wegzukommen, die Kerrsche Poesie, seine meist verrückt witzigen, abenteuerlich komprimierten Gedankenkonstrukte und furiosen Wortgeburten. Kerr schrieb eigentlich nie über eine Inszenierung, immer aber über seine Erlebnisse, Eindrücke, Erinnerungen, die ihn im Dunkel des Parketts beglückten oder heimsuchten. Seine Arbeiten sind, möchte man vage meinen, Prosagedichte. Ein Dichter dichtet über anderer Künstler Stücke.
Schulmeister sagen, vor lauter Dichtung verlören die Rezensionen ihre „Bindung an den Gegenstand“. Ja schon. Vielleicht. Ach was. Papperlapapp!
Außerdem: Künstler Kerr war Kämpfer, Krieger, Schimpfer, Beleidiger, Bewunderer, Liebender, Hasser, Vernichter. Ein Streithammel, nur ein Traumtänzer war er nicht. Er ging harsch vor beispielsweise gegen Brecht und Reinhardt; hingebungsvoll aber war man gegen Hauptmann und Brahm. Er war für Zeitstücke mit der „richtigen“, gegen Zeitstücke mit der „falschen Tendenz“ – das heute gängige Links-Rechts-Schema aber wollte schon damals nicht passen zum Richtig und Falsch. Was „Ewigkeitszug“ in sich trug, wusste Kerr anzubeten. Ja, es gäbe immer wieder Menschen, die für „diese Erdsippe“ ihr Leben einsetzen. „Ich tät‘s nicht. Nur die Zärtlichkeit für solche, die es immer wieder tun, stirbt nicht aus.“
In der Weihnachtsnacht, am 25. Dezember 1867, wurde Alfred Kerr in Breslau geboren, studierte dort Philologie und befand, ihm liege die Rolle als journalistischer Schriftsteller, denn er wolle unbedingt unterhalten, aber auch scharf auf Wirkung zielen. Die Pointe war ihm (fast) alles. „Sätze meistern“ und „Krach machen“, das war seins (manische Streitlust); sachliches Für und Wider eher weniger. Als Kritiker wollte Kerr immer auch Künstler sein.
Er war es! War Superstar des Theaterfeuilletons der Weimarer Republik. Residierte standesgemäß mit Familie im Berliner Westen. Bis die Nazis kamen. Kerr ging, musste sofort weg, zwei Wochen nach Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, da war Kerr 65. Die Familie folgte, sein Vermögen wurde nach und nach eingezogen. Das Exil, umherziehend durch halb Europa, war elend, zutiefst demütigend. Ein unglaublicher Absturz. Und die geistige Elite Deutschlands, die ihn einst umschwärmte, ließ ihn links liegen. Nach Kriegsende versuchte er als kranker Mann skeptisch eine vorsichtige Annäherung an Deutschland (auch auf Einladungen); im Exil war es ihm nur noch „Sprachland“. Bei einem Besuch in Hamburg für eine Vorlesung starb er 1948. Gedenken wir seiner in Liebe. Und feiern seinen 150. Geburtstag ausgerechnet an Weihnachten. Doch ein Christkind wollte er nie sein; eine Taufe zog er nie in Betracht, so sehr seine jüdische Familie auch der christlich-deutschen Kultur zugeneigt war. Schalom Kerr!

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Ilija Trojanows 500-Seiten-Roman „Macht und Widerstand“ ist ein packendes Geschichten- und Geschichtsbuch. Es blickt weit zurück in die Vergangenheit Bulgariens. In den schicksalsschweren Herbst des Jahres 1944, als eine bürgerliche Regierung die Beziehungen zu Deutschland abbrach, worauf die UdSSR dem Land den Krieg erklärte, ein kommunistisches Bündnis den Präsidenten stürzte, Deutschland der Krieg erklärt wurde, woraufhin die Rote Armee das Land besetzte, die Kommunistische Partei Bulgariens aufstieg und nach sowjetischem Vorbild ein totalitäres Terrorregime aufbaute. Bulgarien wird Satellitenstaat der UdSSR, die KP regiert, die Stasi sichert ihre Allmacht – bis zur Wende 1990, als die erste freie Wahl das Regime stürzt.
Der mühselige Prozess der Transformation zum demokratischen Rechtsstaat beginnt. Doch die alten Kader treten nicht wirklich ab, sondern haben in dieser, wie sie sagen, „gelenkten Veränderung“ als skrupellos-opportunistische Wendehälse weiterhin Macht. Ihre Opfer von einst aus den Lagern und Folterhöhlen sagen es so: Die sozialistischen Staatsfunktionäre, die sich einst als „Totengräber des Kapitalismus“ gerierten und daraus ihr Machtmonopol ableiteten, seien nach der Wende mutiert zu „Grabräubern“ der Revolution von 1990.
Der tschechische Regisseur Dusan David Parizek hat am Schauspiel Hannover für seine Romanadaption „Macht und Widerstand“ aus dem historischen Breitwandpanorama zwei wesentliche Figuren gefiltert: Den Ex-Partisan und hochrangigen Ex-Stasi-Offizier Popow (Markus John), jetzt abgetaucht in die neuen Funktionseliten; und den intellektuell-anarchistischen Konstantin (Samuel Finzi), der in den 1950er Jahren ein Stalin-Denkmal in die Luft sprengte. Seine Geheimaktion flog auf, er geriet in die Hände Popows, es folgten zehn Jahre Knast, Folter, Zwangseinweisung in die Psychiatrie und fortan ein reduziertes Dasein als Außenseiter in Einsamkeit, Krankheit, Armut.
Nun begegnen sich nach der Wende das für immer wund geschlagene Opfer und der nach wie vor gut situierte Täter wieder. Popow zählt sich neuerdings zur „Avantgarde des politischen Kompromisses“. Der verhärmt verbitterte, psychotisch rückwärtsgewandte Konstantin ist perplex und sucht verzweifelt nach Gerechtigkeit in den Geheimdienstakten, die ihm weitgehend verwehrt werden (Bulgarien hat keine Stasi-Unterlagen-Behörde). Dennoch erfährt er, wie sein politischer Widerstand verharmlosend als bloß kriminelle Aktion dargestellt wird. Die Akten mit ihren Spitzelberichten (drei Millionen Bulgaren waren bis 1989 als Denunzianten aktiv) als Fälscher von Konstantins Biografie. Für ihn eine letzte ‑ und die wohl schwerste ‑ Demütigung durch das „System“.
Popow hingegen sieht sich als Vollstrecker des Rechts und Verteidiger des gesellschaftlichen Fortschritts, dessen Durchsetzung damals halt auch „ungewöhnliche Maßnahmen“ rechtfertigte. Er sagt: „Wer wie Konstantin nicht zum Volk gehören will, darf sich nicht wundern, wenn er vom Volk geopfert wird.“
Die erschütternd tragisch grundierte Substanz dieser so wortmächtigen wie komplexen Theatererzählung besteht in der Konfrontation der beiden extrem gegensätzlichen Biografien, dem unüberbrückbaren Gegensatz der diametral auf die Vergangenheit wie Gegenwart (ja auf die Welt!) blickenden Männer. Die beiden Protagonisten – Finzi und John als deren Spieler – demonstrieren das mit rhetorischer Wucht und, dank schauspielerischer Kraft, mit psychologischer Intensität. Zwei Charaktere, als Ex-Partisan und Ex-Anarchist zunächst durchaus ähnlich grundiert, dann freilich scharf getrennt durch politisch gegensätzliche Auffassungen (über Kommunismus und Revolution) und daraufhin blutig wieder zusammengeführt als Folterer und Gefolterter – was für eine Geschichte! Letztlich stehen beide bemüht stramm auf wankendem Grund. Sind beide auf eigene Art von den Zeitläuften schwer beschädigt, ja traumatisiert – Samuel Finzi und Markus John spielen das in bedrückender Beiläufigkeit und schmerzlicher Feinzeichnung aus. Als ein Abbild der einst wie jetzt in Macht und Ohnmacht verstrickten bulgarischen Gesellschaft – oder überhaupt: der Tragödie des 20. Jahrhunderts.

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Goethe an Zelter 1827: „[…] alles aber, mein Theuerster, ist jetzt ultra, alles transcendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Thun. Niemand kennt sich mehr, […] niemand begreift […] den Stoff, den er bearbeitet […] Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert, und wonach jeder strebt […].“ – Wir versprechen, uns immer strebend um Verständnis zu bemühen. Frohes Fest!