21. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2018

Das annexionistische Deutschland

von Wolfgang Schlott

„Der Mehrheit der journalistischen Rezeptionen zu den Themen Verantwortung für den Weltkrieg und deutsche Kriegsziele fehlen Fachkenntnisse, um die wissenschaftliche Halt- oder Unhaltbarkeit neuer populärer Publikationen zu erkennen.“ Klaus Wernecke, Historiker, Schüler von Professor Fritz Fischer, bringt es in seinen einleitenden Bemerkungen zur Kriegszieldebatte auf den Punkt. In der mit großem rhetorischem Aufwand betriebenen Debatte über die Schuldzuschreibung bei der Auslösung des Ersten Weltkriegs seien zentrale Darstellungen zu diesem Thema nicht gelesen oder falsch zitiert worden. Die Rückkehr zu den Quellen sei deshalb dringend geboten. Die hier vorliegende erweiterte Neuauflage aus dem Verlag von Helmut Donat, die Sammlung von Dokumenten, zusammengetragen von Salomon Grumbach, 1917 in der Schweiz gedruckt und in Deutschland illegal verbreitet, ermöglicht nunmehr – mehr als hundert Jahre nach der Auslösung der gigantischen Mordmaschinerie – einen kommentierten Zugang zu jenen Quellen, die von den Großmeistern der Weltkrieg-Interpretationen übergangen oder bewusst vernachlässigt worden sind. Die voluminöse, übersichtlich gegliederte Dokumentation „Das annexionistische Deutschland“ mit einem Anhang über „Antiannexionistische Kundgebungen“ bietet nicht nur den Zugang zu jenen Aussagen, in denen die in Deutschland herrschenden Klassen ihre Eroberungsziele oft unverhüllt verkündeten. Sie öffnet auch den Blick auf die politischen Machenschaften der Nachkriegsära, deren Akteure in den 1920er und 1930er Jahren „Revanche“ für die Schmach von Versailles forderten.
In seiner Einleitung zur Dokumentation aus dem Sommer 1916 stellte Salomon Grumbach (1882–1952) fest, dass die deutsche Regierung wie auch ein großer Teil der deutschen Presse von Anfang des Krieges an sich bemühten, „die Welt davon zu überzeugen, dass Deutschland keinen Eroberungskrieg führe und dass, was man über die Stärke der annexionistischen Strömungen verbreite, nicht weiter als eine schwere Verleumdung sei.“ Der aus dem südlichen Elsass stammende, im Geiste eines deutsch-französischen Einverständnisses aufgewachsene Salomon Grumbach gehörte, wie der Historiker Lothar Wieland in seinem biografischen Essay im vorliegenden Band betont, dem gemäßigten Flügel der „Section Française de l’Internationale Française“ (SFIO) an. Im Juli 1914 versuchte die SFIO gemeinsam mit der französischen Gewerkschaft die SPD und die Gewerkschaften zu einem Generalstreik gegen den Krieg zu überreden. Ein Unternehmen, das aus verschiedenen Gründen scheiterte. Grumbach musste am 3. August 1914 fluchtartig Paris verlassen. Er desertierte in die Schweiz, wo er als Korrespondent mit besonderen Aufgaben für die „L’Humanite“ beschäftigt war und neben seinen journalistischen Aufgaben an der Dokumentation arbeitete. Wielands sorgfältig konzipierter, mit über 300 Anmerkungen versehener Essay beschreibt und kommentiert die umfassende publizistische Tätigkeit von Grumbach in der Schweiz wie seine öffentlichen Auftritte nach 1918, wobei im Focus seiner Arbeit stets die Untersuchung der Schuld an der Auslösung des Ersten Weltkriegs stand.
Diesem zentralen Themenkomplex widmet der Historiker Helmut Donat seine umfangreiche Kommentierung. Unter der ironisch anmutenden Überschrift „Deutschlands ‚guter Frieden‘“ untersucht er unter Rückgriff auf die vorliegende Dokumentation und weitere offen gelegte Quellen die Wandlungs- und Beharrungsprozesse der unterschiedlichen Interessengruppen. Dabei geht er nicht chronologisch vor, um die annexionistischen Forderungen einzelner Persönlichkeiten wie auch Ständevertreter und Parteirepräsentanten offen zu legen. So beginnt er mit der rechtsradikalen „Deutschen Vaterlandspartei“, die Anfang September 1917 gegründet, bald Einfluss auf „antidemokratischen, monarchistisch-nationalistische Kreise gewann“. Doch die „alldeutsche Botschaft“, so Donat, habe, wie später die nationalsozialistische Propaganda vom „Volk ohne Raum“, den Nährboden für die Nazi-Herrschaft geliefert. Dass an diesem ideologischen Beutezug auch Deutschlands Professoren beteiligt waren, wie der Aufruf der 1100 Hochschullehrer im Oktober 1917 dokumentiert, bezeugte nicht nur die geistige Verwirrung der Akademiker. Sie hatte auch, wie der Journalist Harry Stürmer in der Berner Freien Zeitung festhielt, „die deutsche Wissenschaft endgültig gebrandmarkt vor den Augen Europas und der ganzen Welt.“ Auf diese Art einer sich verdichtenden Kommentierung setzt Donat seine akribische Beweisführung fort, um in Übereinstimmung mit der Fülle der Grumbachschen Dokumente die zahlreichen Annexionspläne von Einzelpersonen und Interessenverbänden zu enthüllen. So verweist er auf Gebietsansprüche oder auf die Erweiterung von Kolonialbesitztümern, die in Schriften des „Alldeutschen Verbandes“ angekündet wurden. Doch damit bei weitem nicht genug. Die in der umfangreichen Dokumentensammlung unter ‚annexionistische Kundgebungen‘ abgedruckten Texte, in verschiedenen Rubriken aufgelistet, enthalten die offenen und verdeckten Aussagen über gewünschte und „dringend“ geforderte Gebiete für den deutschen Siedlungsraum. Ihre Verkünder stammen aus den Reihen der Politik, des Militärs, aus politischen Parteien und dem Parlament. Es meldeten sich aber auch Publizisten zu Wort, um im Auftrag von Industrieverbänden den „gerechtfertigten“ Anspruch auf den Siedlungsraum im Osten oder auch in Belgien zu erheben. Es ist eine Ansammlung von oft tolldreisten Behauptungen, im Geist eines wahnwitzigen Chauvinismus unverblümt vorgetragen. Wie zaghaft im Kontrast dazu die magere Anzahl der antiannexionistischen Kundgebungen, auf achtzig Druckseiten zusammengetragen. Es sind die warnenden Stimmen von bekannten Friedenskämpfern wie Ludwig Quidde, Ernst Schultze und Hans Wehberg, Petitionen der SPD, Karl Liebknechts Erklärung im Reichstag, Manifeste, einzelne Stellungnahmen von Abgeordneten außerhalb des Parlaments oder eines Gewerkschaftsführers in der Zeitung Vorwärts.
Den Gipfel der Selbstbeweihräucherung und selbstherrlicher räuberischer Gebietsansprüche versinnbildlicht die Denkschrift von Mathias Erzberger, Politiker der Zentrumspartei, gerichtet an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, unter dem Titel „Deutschlands guter Friede“. Sie listet Gebietsansprüche gegenüber Belgien und Frankreich auf, will die Befreiung der nichtrussischen Völkerschaften vom Moskowitertum regeln und russische Ostprovinzen an Preußen angliedern, die Kriegskostenentschädigung zu Lasten zum Beispiel von Frankeich klären. Auch der berüchtigte Alldeutsche Bund entwickelte in einem Schreiben aus dem Jahr 1915 an den Reichskanzler seine kolonialen Raumordnungspläne, die sich beim Vergleich mit der Denkschrift lediglich durch ein geringeres Vorstellungsvermögen unterscheiden, aber aus einem ähnlichen großdeutschen Machtdenken entstanden sind.
Wer sich diesen voluminösen, übersichtlich gestalteten Dokumentenband genauer anschaut, dem fällt die geschichtspolitische Botschaft auf der letzten Seite des Hard-Cover-Umschlags ins Auge. Diese Dokumentensammlung offenbare, dass die „Siegfrieden“-Politik des Kaiserreichs zur Gründung von protofaschistischen Organisationen in den 1920er Jahren beigetragen habe. Diese bedienten sich in ihren demagogischen Botschaften auch der berüchtigten Dolchstoßlegende, um den Verrat der kontrarevolutionären Heimatfront gegenüber den tapfer kämpfenden Frontsoldaten als Grund für die militärische Niederlage von 1918 anzugeben. Auf diese Weise lieferten sie der nationalsozialistischen Ideologie die fadenscheinige Begründung für die Wiedergutmachung der Schmach von Versailles. Für einen geschichtsbewussten Leser dieses Dokumentenbandes wird aber damit auch eine Aufklärung über die immer wieder behauptete Legende von den großmächtigen „Schlafwandlern“ geleistet, die angeblich ahnungslos in den Weltkrieg hineingeschlittert seien und damit als reichsdeutsche Kriegsteilnehmer allerhöchstens eine Mitschuld trügen. Die aufmerksame Lektüre dieser 700 Seiten wird sie nun mit jenem Wissen ausstatten, gegen welches die historischen Diskursführer rund um den 100. Jahrestag der Auslösung des Ersten Weltkriegs immer nur ihr Interessen geleitetes Halbwissen zu Felde geführt haben.

Salomon Grumbach: Das annexionistische Deutschland. Eine Sammlung von Dokumenten, die seit dem 4. August 1914 in Deutschland öffentlich und geheim verbreitet wurden, Donat-Verlag, Bremen 2018, 672 Seiten, 29,80 Euro.