20. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2017

An der See

von Max Klein

In Ahrenshoop an der Ostsee ist kein Wahlkampf auszumachen, von ein paar Plakaten abgesehen. In unserem Hotel gibt es alte Fotografien, so auch von Johannes R. Becher, der nach dem Krieg den Ort einer alten Künstlerkolonie zu einem Refugium für den neugegründeten Kulturbund zur Erneuerung Deutschlands gestalten ließ, oder von Friedrich Wolf – Menschen, die so viele nicht erkennen werden, die heutzutage in Ahrenshoop zu Gast sind. Eine wunderbare Veranstaltung zu „Stefan Heym – der Unbequeme“ hatte bis auf das erstaunlich aktuelle Gedicht des 18-jährigen Helmut Flieg zum Rüstungsexport und ein anrührendes Interview von Regine Sylvester mit Inge Heym nichts oder fast gar nichts Politisches, ein Märchen vom Hirschhornknopf, Geschichten vom Altern. Man gibt sich der Kultur hin und so erwarben wir auf dem Kunstmarkt in Prerow eines der seinerzeit klassischen Bändchen aus dem Inselverlag: „Die Bahn und der rechte Weg des Lao-Tse“ (Inselbücherei Nr 253, Leipzig), geschrieben vor etwa 2500 Jahren.
Man hat hier auch Zeitungen, das Hotel führt den Tagesspiegel, den ich immer bekomme, weil keiner oder kaum jemand noch liest, offenbar schon gar nicht in Ahrenshoop. So lese ich also gestern, am 28. August, eine Kolumne von Stephan-Andreas Casdorff, der da in deutlich fordernder Art verlangt: „Angela Merkel muss sagen, was sein soll, also was sie mit der Macht anfangen will, die ja immerhin nur geliehen ist. Dass sie dem weiter ausweicht, darf nicht gestattet werden“, und so fort: „… alles Große, das geschehen ist, ist gewissermaßen über sie gekommen.” Am gleichen Tag schreibt der ebenso zu schätzende Jakob Augstein bei Spiegel-online einen Beitrag zu „Dr. Merkels Schlaflabor“, darin unter anderem: „Der Wahlkampf heißt so, weil die Demokratie Auseinandersetzung braucht.“ Die großen Journalisten(söhne), und nicht nur sie, sind ungeduldig. In dieser merkwürdigen Zeit, am weißen Strande der Ostsee wie auch im Disput mit manchem Freund sehe ich erstaunt zu, wie ich Angela Merkel bereit bin zu verteidigen, was nicht heißt, sie wählen zu wollen.
Lao-Tses Spruch Nr. 61 beginnt so:
„Der große Staat ist wie die Tiefe, zu der die Flüsse fließen,
Herd des Menschlichen,
weibliches Widerbild der Gemeinschaft.
Das Weibliche bändigt stets das Männliche durch Empfänglichkeit;
Empfänglichkeit ist Herablassung.“
Martin Schulz dramatisiert jeden Tag ein anderes Thema, zuletzt eine „Bildungsoffensive“, um jener Herablassung begegnen zu können, die Angela Merkel nun einmal an sich hat. Man kritisiert sie, wie oben, gern für ihr Nichts-Tun, und verkennt die Kunst, die es erfordert, groß zu werden und zu handeln, nicht jedoch durch vorlaute Verordnung oder gar tägliches Twittern von undurchdachtem Schwachsinn, sondern durch Abwarten, um Prozessen in einer immer komplexeren Welt nahe zu kommen, einer Welt, die sich einfachen Antworten zumeist versagt.
Einmal hat Angela Merkel klar und deutlich und schnell gehandelt, als sie Menschen in Not einlud, sofort und ungehindert nach Deutschland zu kommen. Die Folgen solch klarer Führung müssen ihr eine Lehre fürs Leben sein: Die kleine, laute Schwesterpartei im reichsten Teil Deutschlands demütigt sie in wenig erträglicher Weise und aus der ursprünglichen Anti-Euro-Partei kommen rechte, fanatische, volksdeutsche, oft bejubelte Töne, von denen man doch hoffte, sie seien Geschichte. Das Land, zunächst im Aufbruch, erschien plötzlich nahezu destabilisiert, während die europäischen Partner mehr oder minder kritisch einfach zuschauten. Als ihr Vorgänger im Kanzleramt, führungsstark, das Arbeitsrecht reformierte, machte er unzählige Menschen zu Abhängigen zweiter Klasse im Hartz-IV-Prozess, den man nah erlebt haben muss, um ihn wirklich ablehnen zu können. Der ostdeutschen Physikerin liegen laute Töne nicht, sondern eher die leise Analyse von Situationen, um dann tun zu können, was offenbar mit alleiniger Re-Aktion verwechselt wird.
Im Spruch Nr. 58 des Lao-Tse heißt es:
Tatlose Verwaltung – frohes Volk
Eifrige Verwaltung – trauriges Volk.
Man wünscht Martin Schulz, er dächte nach, was das bedeutet. Natürlich gehört die Weisheit nicht Angela Merkel, natürlich könnte eine kluge linke Regierung dieses Land führen, gerechter, weiter, mutiger. In Zeiten von Trump und Brexit, Orban und Erdogan, globalen Unrechts und Bedrohung unserer klimatischen Existenz, fortgesetzter Kriege um unrechte Ziele, muss man jedoch bedenken, welchen Wert Frieden und Stabilität haben, nicht nur in Ahrenshoop. Man sollte also nicht, wie Augstein, Kampf und Auseinandersetzung gleichsetzen und nicht behaupten, wie Casdorff, dass die Macht geliehen ist. Merkel wurde sie verliehen in drei Wahlen, und wenn die Wahlauseinandersetzung nicht endlich klarer und durchdachter geführt wird, dann wohl auch zum vierten Mal. Die richtige „Bahn“ zu finden, das brauchte 81 Sprüche Lao-Tses, laut erscheint keiner und ungeduldig auch nicht.