20. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2017

Am Neckar

von Renate Hoffmann

Im lieblichen Neckartal zwischen Heilbronn und Heidelberg ist gut wandern. Wer nicht über die bewaldeten Höhen möchte, wählt die Uferwege, wen Burgen, Schlösser und Ruinen, links- und rechtsufrig, locken, den treibt es hinauf. Beides ausgewogen zu verbinden, bleibt jedem unbenommen.
In Gundelsheim überquere ich den Fluss und steige auf zur wehrhaften Burg Guttenberg. Gelesen hatte ich: Seit dem 13. Jahrhundert durchgängig von umsichtigen Lehnsleuten bewohnt, nicht zerstört, keine Brandschatzung, keine Plünderung. Vorburg, doppelter Zwinger, Kernburg, Türme, Tore, spätmittelalterlicher Wohnbau, barockes Wohngebäude, Bergfried und Burgkapelle. Im Besitz einer „Holzbibliothek“ (in Unkenntnis dachte ich an eine Extra-Ausgabe von Meyer oder Brockhaus). Die Gemmingen-Guttenbergs, seit 1449 Burgherren, gehörten zu den ersten Familien in Baden, die Luthers Lehre annahmen. Wilhelm Hauff (1802–1827), der Dichter, verbrachte den Sommer 1825 auf der Burg. – Und seit dem Jahr 1970 hat die Deutsche Greifenwarte auf dem Burggelände ihren Sitz. Gründe genug für einen Besuch.
Etwas eingeschüchtert von der hohen Schildmauer passiere ich Tore und Gänge, laufe an den Volieren der Greifvögel vorbei und gerate im altertümlichen Wohnbau mitten hinein in das Ritterwesen und die Geschichte des Hauses derer von Gemmingen-Guttenberg; zusammengefasst in den Etagen des Burgmuseums.
Empfang und Einweisung übernimmt ein Vertreter des Rittertums (Attrappe), komplett eingerüstet, auf einem gepanzerten Rappen sitzend. Respektabfordernd. Denn die Begleitgeräusche beschwören Kampfgetümmel und Fanfarengeschmetter. Zu erfahren ist, wie man zum Ritter wurde. Die Ausbildungszeit begann im Alter von sieben Jahren und endete mit dem Ritterschlag, wenn der „Auszubildende“ das 21. Jahr erreicht hatte. Dazwischen lagen die Lernfächer: Höfischer Umgang, angemessene Tischmanieren, Tanzen, Reiten, Bogenschießen, Schwimmen, Waffenkunde. Das Praktikum bei einem Ritterlehrherrn musste absolviert werden. Dort hatte der Jungritter für Pferd und Rüstung zu sorgen (Hufe auskratzen, Brustpanzer polieren). Die Rüstung war schwer (25 bis 30 Kilo) und teuer. Schließlich handelte es sich um eine Maßanfertigung. Und ein gutes Pferd hatte auch seinen Preis. Ergo: Das Leben ist bitter, Herr Ritter.
In der Chronik der weitverzweigten Gemmingen-Familie begegnet man allenthalben ehrbaren Männern, die, gebildet, die geistig-kulturellen Bestrebungen der Zeit unterstützten oder auch eigene Begabungen auslebten. Ein Komponist ist unter ihnen, den man „Mozart des Neckartales“ nannte; ein Schriftsteller und Theatermann, mit Schiller und Mozart befreundet. Jener Dietrich von Gemmingen-Guttenberg und sein Bruder Wolf, die den Mut besaßen, ob ihres neuen Glaubens Karl V. zu trotzen. Der Kaiser kam nach Heilbronn, um die Brüder auf den „rechten Weg“ zurückzuführen. Die Antwort der Getadelten sei gewesen: „Es täte ihnen herzlich leid, seine Kaiserliche Majestät als ihr nächst Gott oberstes Haupt zu betrüben oder etwas zuwider handeln, so wollten sie doch solches eher tun, als Gott erzürnen und seine reine Lehr abschaffen.“ Ein beherztes Wort in schwierigen Zeiten.
Im 1. Obergeschoss stehe ich vor der leider verschlossenen Bibliothek. Sie verfügt über den Schatz von etwa 3000 Folianten, darunter 23 Inkunabeln aus der Zeit vor 1500. Ich gäb was drum, sie in Augenschein nehmen zu dürfen.
Ausführlich hingegen darf ich mich in Speisenfolgen vergangener Tafeleien vertiefen. Die Völlerei ist perfekt: „met trunk in kruechen serviert“ (Honigwein in Krügen), „steynbrodt mit gruiben in smaltz“ (Steinbrot mit Griebenschmalz), „praun bihr, ruchfleysch mit kreem“ (Rauchfleisch mit Meerrettich), Kornbrand; „ietzo snupf ain schneuz prislein“; gefüllte Wachteln auf Eierteig, Saibling, „apfelsnitz in calvados“; „ietzo las dich kurtzweilen mit singen und spiln.“ Danach ging es munter weiter: Gemüse (!), spanische Pastete, Eierragout, Gebirgskäse, Mandeltorte und in Wein gedünstete Äpfel. „ietzo las dir zur nacht winschen.“
Jagdtrophäen, schöne Porzellane und Gläser, sakrale Kunstwerke und Unterlagen zu Rechtsprechung und Strafvollzug (die Herren von Gemmingen besaßen die „Hohe Gerichtsbarkeit“; und für den Scharfrichter gab es bereits einen Tarifvertrag!)
Ich wendele mich weiter aufwärts, in neugieriger Erwartung der „Holzbibliothek“. Auf einer Tischvitrine stehen die 93 Bände aneinander gereiht, zum Teil sind sie aufgeschlagen, so dass man ihren Inhalt bestaunen kann. Eine kostbare Rarität, nicht von Brockhaus, auch von Meyern nicht. Von Carl von Hinterlang, Professor an der Forstbotanischen Fakultät der Universität Linz.
Sie sehen Büchern täuschend ähnlich, sind es aber letztendlich nicht. Kästchen aus Holz, aus dem Holz, über welches sie Auskunft geben. Ihre (Buch)rücken tragen die Rinde der vorgestellten Baum- oder Strauchart. In feinster Manier sind darauf Pilze oder Flechten angebracht, die auf dieser Holzart leben. Unter einem Deckel findet man die Beschreibung und unter einem Deckelchen den Samen. Auf zwei Lederschildern ist die genaue Kennzeichnung zu lesen, in Deutsch und in Lateinisch. Erst im aufgeschlagenen Holzbuch zeigt sich die ganze botanische Herrlichkeit.
Auf Moos gebettet: Zweige, Blätter, Blüten, Früchte, Wurzeln zum Kranz geflochten, Radial- und Querschnitte eines Zweiges und ein Stück Holzkohle. In einem Schächtelchen verborgen: Blütenstaub zur Pollenanalyse. – Pimpernuß und Schwarze Pappel, / Lärche, Ceder, Wilder Appel, / Weyrauchskiefer, Winterlinde, / den Holunder noch geschwinde. / Und so wachsen auf dem Tische / Baum und Strauch und das Gebüsche.
Die hölzerne Bibliothek entstand um das Jahr 1790. Man weiß nicht genau, auf welche Weise, die gelungene Präparation erfolgte. Die Sammlung spricht für das große Interesse dieser Zeit, die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu ergründen.
Die Neckarlandschaft und das Umsorgtsein waren es wohl auch, die Wilhelm Hauff veranlassten, den Sommer 1825 auf Burg Guttenberg zu verbringen. Nach dem Studium der Theologie nahm der selbstbewusste junge Mann 1824 die Stelle eines Hauslehrers bei der Familie von Hügel an. Seine Dienstherrschaft, Ernst Eugen von Hügel, Präsident des Kriegsministeriums und Luise Ernestine von Gemmingen-Guttenberg waren ihm wohlgesinnt. Der Dichter hatte bereits erste Erfolge als Herausgeber und Autor erreicht. Später wird er die Redaktion des Morgenblattes für gebildete Stände von Johann Friedrich Cotta übernehmen. Wilhelm Hauff (1826): „Ich weiß, daß mir die Natur ein Talent gegeben hat, das man nicht an vielen findet; ein Talent, irgend einen Stoff mit einiger Leichtigkeit so zu wenden, daß er für die Menge ergötzlich […] ist.“ – Ihn bewegte seit längerer Zeit ein Romanstoff, zu dem auf der Burg einige Kapitel entstanden. Lichtenstein. Romantische Sage aus der Württembergischen Geschichte.
In einem hellen Erker stehen Hauffs Büste, ein geräumiger alter Holztisch, Tintenfass und ein einfacher Stuhl. So könnte die Umgebung gewesen sein, in der dem Dichter die Einfälle kamen. Verschiedene seiner Werke liegen aus, darunter die Märchen, die man wie gute Bekannte aus der Jugendlesezeit freudig begrüßt. Das Wirtshaus im Spessart, Zwerg Nase, Das kalte Herz und Die Geschichte von dem kleinen Muck. Robert Walser bemerkte: „Hauff hat einen Roman und zahlreiche Novellen geschrieben, meiner Ansicht nach machen ihn aber die Märchen zu dem, was er ist: Zu einem der feinsten deutschen Dichter.“
Über den Wehrgang gehe ich zum Bergfried und seiner Aussichtsterrasse. Da liegt es ausgebreitet, das liebliche Neckartal, mit den sanften Hügeln, Burgen, Weingärten und den Ortschaften  entlang der Ufer. Die Lust zu einer Talwanderung stellt sich ein.