20. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2017

Rechtsextremismus psychoanalytisch gesehen

von Wolfgang Brauer

Andreas Peglaus Buch „Rechtsruck im 21. Jahrhundert“ richtet sich mitnichten an Leser, die schon eine Antwort parat haben, ehe der Fragesteller seine Frage zu Ende formulieren konnte. Er stellt sich mit seinem historischen Kronzeugen Wilhelm Reich angesichts dessen Erschütterung über die Prügelorgien der Berliner Polizei Anfang der 1930er Jahre und die diversen Aufmärsche von SA (und Rotfrontkämpferbund!) die Frage, wie Menschen „ihr Fühlen, Mitfühlen und eigenständiges Denken“ verlieren können. Peglau, studierter Psychologe und praktizierender Psychotherapeut in Berlin, will wissen, warum trotz der erdrückenden Last der deutschen Geschichte eine vor wenigen Jahren noch nicht geglaubte Zahl von Menschen wieder „ganz rechts“ – also AfD – wählt, warum vor nicht allzu langer Zeit Tausende ausgerechnet im sich gerne weltoffen präsentierenden Dresden den dumpfesten PEGIDA-Parolen applaudierten. Er will wissen, weshalb in einem Land, in dem die Leugnung der Shoah strafrechtlich verfolgt wird, immer noch – oder schon wieder? – ein rundes Viertel der Bevölkerung antisemitischen Äußerungen zumindest nicht ablehnend gegenübersteht.
Und Andreas Peglau weigert sich, banalen Erklärungsmustern zu folgen wie denen von den politisch Doofen – so hart sagt das allerdings niemand, wir leben in Zeiten der political correctnes –, die die einfachen Lösungen bevorzugen und auf „rechte Rattenfänger“, Gauner und Betrüger hereinfallen. Im Gegenteil, er hält dieses hilflose Gestammel für genauso falsch wie die Beschimpfungen, zu denen sich der heutige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel einst angesichts der fremdenfeindlichen Aufmärsche im sächsischen Sebnitz hinreißen ließ: „Pack“ … Das „Pack“ übernahm die Beschimpfung als Ehrentitel. Die Mechanismen des Unbewussten sind nicht zu unterschätzen. Auch bei diesen „fremdenfeindlichen Demokraten“ (wie der Autor sie bezeichnet) war ein Phänomen zu beobachten: Wer oft genug zum Beispiel als „brauner Mob“ bezeichnet wird, wird dies „früher oder später als Selbstbild übernehmen“. In der Geschichte steht das nicht ohne Analogien.
Peglau weiß sich in seiner Positionierung mit Wilhelm Reich einig, der konstatierte, dass man das Gegenteil des Beabsichtigten erreiche, „wenn man die nationalsozialistische Führung mit alten, abgeschmackten Methoden lächerlich zu machen“ versucht. Damit scheiterten bereits die Linken der Weimarer Republik. Wilhelm Reich: „Sie [die Nazi-Führung – W.B.] hat mit unerhörter Energie und großem Geschick Massen wirklich begeistert und dadurch die Macht erobert. Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und mutig aussprechen.“ Reich versuchte das in seiner 1933 erschienenen Schrift „Massenpsychologie des Faschismus“. In der Konsequenz sollte dieses zu seinen Hauptwerken gehörende Buch zum endgültigen Bruch zwischen ihm und Sigmund Freud führen – aber auch zum Bruch mit den moskauhörigen kommunistischen Parteien West- und Mitteleuropas, von denen gleich drei sich seiner zu entledigen versuchten. Peglau zitiert den – neben diversen Funktionärsbefindlichkeiten – tatsächlichen neuralgischen Punkt dieses bis auf den heutigen Tag andauernden Zerwürfnisses: „Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann.“ Die traditionell in der Regel auf die politische Ökonomie beschränkten Politikansätze der Linken (das berühmte „Primat der Ökonomie“ und die „alles entscheidende Frage“ der Eigentumsverhältnisse) mussten zwangsläufig ebenso scheitern wie alle Versuche, staatlich verordnete „Tugend“-Systeme unter Missachtung dieser Verhältnisse durchzusetzen. Auch die immer wieder gern als linker Joker aus dem Ärmel gezogene „Verteilungsgerechtigkeit“ ändert nur wenig an der Grundsuppe allen Übels. Nebenbei bemerkt, sind das Schlüsse, zu denen seinerzeit auch Gustav Landauer gelangte.
Andreas Peglau benutzt nun die Reichschen Befunde der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts als Indikatoren zur Analyse des Rechtsdralls der heutigen deutschen Gesellschaft. Wilhelm Reich diagnostizierte psychische Konstellationen, die über lange Zeit hinweg von Kirche, Kleinfamilie und Sexualunterdrückung erzeugt worden seien. Ergebnis sei ein nach „oben buckelnder und nach unten tretender autoritärer Charakter“, dessen „destruktive Emotionen bei gegebenem Anlass jederzeit aus ihrem Versteck hervorbrechen können“. Dass in einer Welt, „die hochgradig von neurotisierten Erwachsenen gestaltet wird“, gesunde Kinder neurotisiert und zu psychosozialen Zeitbomben gemacht werden – Peglau betont ebenso wie Reich ausdrücklich den Objekt-Charakter des Kindes in diesem pervertierten Prozess –, dürften alle bestätigen, die in der einen oder anderen Form mit Gruppen von jungen Menschen zu tun haben, die eben nicht durch eine vorherige soziale Auslese zusammengesetzt worden sind. Schulklassen von deutschen Sekundarschulen zum Beispiel …
Erschreckenderweise funktionieren diese Mechanismen nach Peglaus Analysen scheinbar immer noch. Ihm hier zu widersprechen scheint unmöglich – man müsste denn schon die Erfahrungen eines ganzen Jahrhunderts ignorieren und auf die holzschnittartigen Erklärungsmuster der Theoretiker der Kommunistischen Internationale zurückfallen. Psychosoziale Deformationen, auch wenn sie über Jahrhunderte hinweg wirken – der französische marxistische Historiker Michel Vovelle nannte einmal die Mentalitäten „die lang andauernden Gefängnisse unserer Seelen“ – sind auch nach Auffassung des Autors nicht die Hauptursache für die Entstehung von Faschismus. Aber es geht nicht ohne sie: „Autoritär-gefühlsunterdrückende Sozialisation ist also zwar keine hinreichende Bedingung für faschistische Entartungen, aber eine notwendige Voraussetzung dafür.“
Wer sich auf dieses Analysemodell einlässt, fühlt sich früher oder später in einem gedanklichen Teufelskreis eingeschlossen. Der ließe sich aber durchbrechen. Nur ist die Lösung, die der Autor anbietet, alles andere als auf Knopfdruck herzustellen: „Kinder liebevoll ins Leben zu begleiten, aktiv nach guten und gleichberechtigten Partnerschaften, erfüllter Sexualität und psychischer Gesundheit zu streben, privat und öffentlich autoritär-lebensfeindliche Normen in Familie, Schule, Beruf, Medien, Kirche, Politik und Staat anzuprangern und nach Gleichgesinnten zu suchen, mit denen sich dagegen Widerstand leisten lässt – auch das sind wirksame Mittel, zerstörerischer Gewalt und Krieg die psychosoziale Basis zu entziehen.“
Die jüngsten statistischen Daten der Krankenkassen bestätigen ihn. Die Anzahl depressiv erkrankter Menschen stieg in den letzten Jahren dramatisch. Nicht nur in Ballungsräumen wie Berlin oder Hamburg – auch im scheinbar idyllischen Thüringen vergrößerte sich nach Angaben der Barmer Krankenkasse zwischen 2012 und 2015 die Zahl der wegen Depressionen behandelten Männer um 17 Prozent, die der Frauen „nur“ um 12 Prozent, allerdings von einem doppelt so hohen Basiswert. Die Thüringer Allgemeine zitierte dazu den Erfurter klinischen Psychologen Stefan Dammers: „Die Ursachen sind oft schicksalhaft bedingt.“ Das Blatt vergaß hinzuzufügen, dass menschliche Schicksale zumeist menschengemacht sind. Damit sind wir wieder bei Andreas Peglau.

Andreas Peglau: Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus als Erklärungsansatz, NORA Verlag, Berlin 2017, 174 Seiten, 14,90 Euro.