Abgefahrenes: Ballons im heißen und im Kalten Krieg

von Lutz Unterseher

Österreich gegen Venedig: 1848 gab es einen Aufstand in Norditalien – gegen die Herrschaft Österreichs in diesem Gebiet sowie für die Freiheit und Einheit Italiens (Risorgimento). Die Erhebung der Irredentisten (nicht zu verwechseln mit wahnsinnigen Zahnärzten) wurde von der österreichischen Armee unter Feldmarschall Joseph Radetzky niedergeschlagen. Nur die Aufständischen in Venedig (Republik von San Marco) wollten nicht aufgeben.
Im Frühsommer 1849 begannen die Österreicher die Stadt zu belagern, die – bekanntlich auf einer Insel gelegen – vom Festland aus mit den damaligen Vorderladerkanonen nicht erreicht werden konnte. So griff man, um überhaupt in die Stadt hineinwirken zu können, zu einer Improvisation, die zwei bastlerisch gepolten Artillerie-Offizieren zu verdanken war. Es handelte sich um einen mit Wasserstoff gefüllten Ballon, der 15 Kilogramm Schwarzpulver trug: eine Ladung, die – durch eine langsam brennende Zündschnur ausgelöst – nach einer Fahrt von wenigen Kilometern abgeworfen werden konnte. Ab Juni 1849 wurden etwa 200 dieser Luftvehikel Richtung Venedig eingesetzt, allerdings wiederholt durch widrige Winde stark behindert. Nur wenn es stetigen Westwind gab, schien es Wirkungschancen zu geben.
Doch die Trefferquote blieb sehr gering. Die gelegentlichen Explosionen auf bewohntem Gebiet hatten aber wohl einen gewissen psychologischen Effekt. Ob die Kapitulation Venedigs im August 1849 damit wesentlich zusammenhing, lässt sich freilich kaum sagen. Jedenfalls gab die österreichische Armee die Idee der Ballonbombe wegen der geringen Trefferchancen bald wieder auf.

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Großbritannien gegen Deutschland: 1940 riss in Großbritannien ein Sturm zahlreiche Fesselballons der Luftverteidigung los, und es gab darauf Nachrichten, dass einige davon weit gen Osten, einer gar bis nach Finnland, getrieben worden waren. Noch im selben Jahr ließ Premier Churchill, ein Mann, dem schräge Ideen nicht fremd waren, von den Streitkräften untersuchen, ob sich Ballons als Waffen gegen das Deutsche Reich eignen könnten.
Trotz langwieriger Debatten unter den Militärs gab es bereits 1942 eine tragfähige Lösung (Operation Outward): Von da an wurden bis kurz nach der Invasion von 1944 fast 100.000 Wasserstoffballons eingesetzt. Kosten: unter zwei Pfund pro Stück. Die Gründe für den niedrigen Preis lagen nicht nur in der Großserienproduktion, sondern auch in der einfachen Machart und der geringen Traglast der Luftgefährte.
Die Ballons trugen entweder drei Brandbomben zu nur 2,7 Kilogramm (54 Prozent der Einsätze) oder ein einfaches Stahlseil (46 Prozent).
Selbstverständlich ging es nicht darum, bestimmte Ziele zu treffen, sondern auf Basis einer großen Zahl von Ballons den Gegner nach dem Zufallsprinzip zu verunsichern.
Die kleinen Brandbomben sollten hier und da Waldbrände auslösen, was offenbar in einigen Fällen auch gelang. Und das Stahlseil, es hing vom Ballon herab, hatte die Aufgabe, beim Streifen von Überlandleitungen Kurzschlüsse auszulösen, was wohl zumindest in einem Fall sehr erfolgreich war. Gab es doch Hinweise, dass ein solcher Kurzschluss über eine Art Kettenreaktion zu einem Großbrand in einem Elektrizitätswerk führte. Ebenfalls wurde berichtet, dass hin und wieder Jagdflugzeuge gegen die britischen Kampfballons eingesetzt wurden.
So dürfte sich die Operation Outward für Großbritannien gelohnt haben.

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99 Luftballons gen Ostberlin: Frühjahr 1954, knapp ein Jahr nach den Unruhen vom 17. Juni. Ein Wochenende. Ich war damals zwölf Jahre alt, wohnte nicht weit vom Alexanderplatz und ging auf der Museumsinsel spazieren – irgendwo in der Nähe der Ruine des unbeschreiblich hässlichen, großen Berliner Domes und des kaum planierten Trümmerfeldes, das den Platz bezeichnete, auf dem das Stadtschloss gestanden hatte.
Ich sah gen Westen – dorthin, woher der Wind kam. Und ich tat dies nicht von ungefähr, sondern weil ich eine Wolke roter Luftballons auf mich zufliegen sah. Ich war gebannt und konnte meinen Blick kaum wenden. Als die Ballons näher kamen, bemerkte ich, dass jeder eine kleine Last trug, die aussah wie ein Bündel Papier.
Dort, wo ich stand, gab es Unruhe. Ich blickte mich um und sah, wie Volkspolizisten aus Mannschaftswagen sprangen, um in einer langen Kette mit Front gen Westen Aufstellung zu nehmen. Sie trugen dunkelblaue Uniformen mit weiten, langen Hosen, waren blutjung und wirkten irgendwie ungelenk. Ihre Kluft symbolisierte die Anbiederung des Regimes bei der Arbeiterklasse. (Der military look in leicht grünlichem Feldgrau sollte erst später eingeführt werden.)
Jeder der Vopos war mit einem Luftgewehr ausgerüstet, wie man es von den Schießbuden der Jahrmärkte her kennt. Und es wurde damit auf die Luftballons geschossen. Die Trefferquote schien mir erbärmlich. Doch wenn es gelang, eines der unbemannten Luftvehikel zum Absturz zu bringen, wurde dessen Fracht sofort kassiert.
Die Szenerie, die Aktion der Polizisten mit den Kindergewehren, kam mir grotesk vor. Ich machte mir meinen Vers darauf. Wahrscheinlich handelte es sich bei den Ballons um eine abgefeimte Propaganda-Aktion aus Westberlin, durchgeführt von einer der dortigen antikommunistischen Vereinigungen. Und ich dachte auf dem Nachhauseweg, dass sich meine Regierung ganz schön vorführen ließ.
Obwohl noch jung und ein aktiver Junger Pionier, hatte ich durchaus schon ein Gefühl für die Unsicherheit des Ostberliner Regimes – gar nicht so sehr, weil meine vorpommersche Großmutter gerne Sprüche klopfte wie: „Spitzbart, Bauch und Brille, die sind nicht des Volkes Wille“, sondern weil in unserer Schule nach jeden Ferien Lehrkräfte fehlten, die „in den Westen gemacht“ waren.