20. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2017

Sensorium

von Heino Bosselmann

Die Testverfahren, mit denen die Politik die Schule unterwirft, versuchen vordergründig Intellekt und Sprachvermögen zu messen. Dafür wären, heißt es, „Kompetenzen“ zu entwickeln, idealerweise „Methodenkompetenzen“, die der gegenwärtigen Bildungsforschung weit über Wissen gehen. Das Wissen-über ist längst out, da sich, heißt es, der Schüler mit der richtigen „Methodenkompetenz“ ja alles selbständig erschließen werde, nachdem er erst – nächster Lapsus – das „Lernen gelernt“ habe.
Nur: Wie sieht es mit der Sensualität aus, die noch vor allem Begrifflichen, Analytischen und Methodischen notwendig entwickelt sein müsste? Erkenntnis nämlich beginnt mit dem Sensorium, also mit den Sinnen und dem sinnlich zu Fassenden. Bevor der Mensch denkt, Zusammenhänge herstellt und urteilt, wird er wachen Sinnes wahrnehmen. Die Welt und seine eigene Position darin müssten aufmerksam erlebt werden, bevor der komplexe Vorgang der Verarbeitung dieses bunt Empirischen beginnt. Wie also steht es mit der über Sinnespforten erfolgenden Aufnahme, die wie alles andere intensiv praktiziert werden muss, auf dass sie sich neurologisch fundiere.
Der Hirnforscher Manfred Spitzer verweist auf eine fulminante Chance, verbunden mit einer dramatischen Gefahr: Werden wir gesund geboren, ist in uns eine Menge angelegt. Etwa wie die Pflanzen eines Gartens, warten Milliarden Nervenzellen darauf, in Synapsen auszutreiben, auszuknospen und aufeinander zuzuwachsen, um über diese frischen Triebe Verästelungen, Verbindungen und Verschaltungen herzustellen, woraus dann nicht nur die Hardware für unser Wissen und Sprechen, sondern die Grundlage unserer Persönlichkeit in Gestalt des Ich-Bewusstseins entsteht. Wird unser neurologischer Apparat erprobt, beansprucht, trainiert, so wächst er und formt sich hirnphysiologisch zu einer weit ausladende Baumkrone, der wir die Früchte nicht nur unseres Geistes, sondern überhaupt den Reichtum an Empfindungen verdanken. Spitzer meint, die Einheit des Lernens sei die Synapse. Sie verbindet und verschaltet.
Für die Ausformung eines reichen seelischen Innenraums benötigen wir vielfältigen „Input“. Sinnesorgane und Nervensystem bedürfen starker und verschiedener Reize und Anregungen, auf dass sich das neuronale Netz so weit wie dicht knüpfe. Wir sind, bekommen wir genug zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu erleben, aller Möglichkeiten voll; unser inneres Wachstum wartet auf die Welt mit ihrer Mannigfaltigkeit, um sie aufzunehmen und zu „verdaten“. So schaffen wir aus der äußeren Welt eine inwendige. Wie wundervoll, nicht wahr? – Mit Schelling: Im Menschen hat die Natur ihre Augen aufgeschlagen, sonst wüsste sie nicht, dass sie ist.
Nur muss dazu das Nervensystem aktiv gefordert sein, argumentiert Spitzer, sonst verkümmert es. Wie im Falle der Schielblindheit, einer Erblindung des eigentlich völlig intakten Auges, ausgelöst davon, dass bei einer angeborenen Fehlstellung kein Licht in die Pupille fällt. Wird dies nicht unmittelbar nach der Geburt korrigiert, erblindet der Mensch, weil Sehnerv und Sehzentrum nicht angeregt werden. Übertragen heißt das: Wenn wir wenig oder keine Anregungen empfangen, so schaltet die Natur in unserem empfindenden Geist die nicht benötigten Anlagen als unbenötigt ab; es erfolgt ein „Synapsenjäten“, und zwar irreversibel. Simpel ausgedrückt: Bekommt unser Zentralnervensystem, bekommen insbesondere die Verästelungen in unserem Cortex nichts zu tun, weil allzu wenige oder zu gleichförmige Reize erfolgen, fließt also kein Strom, so werden von Natur aus die knospenden Synapsen gekappt, über die neurologische Verästelungen wie ein Dickicht wuchern sollten, und wir stehen dann im Hirn also wie ein Baum mit dürren, kahlen Ästen da. Wir degenerieren unweigerlich zu Simpeln, zu „Dead-Heads“, die zwar das Einfache verstehen, denen aber tiefe Empfindungen ebenso fremd sind wie ihnen umfassende Erkenntnisse kaum möglich sein werden. Welch traurige Prädestination!
Ob unsere Persönlichkeit also farbig aufblättert und ob wir fitte Empfinder und Denker werden können, das hängt, so Spitzer, maßgeblich von unserer frühen Entwicklung ab. Zweimal eröffnen sich unserer neurologischen Basis umfassende Möglichkeiten im Sinne synaptischer Plastizität, zum einen als jungem Kind, dann noch einmal in der Pubertät der Jugend. Danach sind wir, nun ja, weitgehend fertiggestellt. Und festgestellt. Es kommt also auf die Anregungen an. Ein Kind, das viel zu schauen bekommt, das angesprochen, dem vorgelesen, mit dem gesungen wird, das anfängt zu basteln, zu zeichnen, zu formen, eines, das gar ein Instrument lernt und sich einer „reizvollen Kindheit“ erfreuen darf, das sich ausprobiert und Erlebnisse hat, wird über allerbeste Voraussetzungen verfügen, sein Empfinden, sein Gedächtnis und überhaupt seine Persönlichkeit ausbilden zu können. Andere verarmen sinnlich und intellektuell, und zwar schon früh – und noch vor der Schulzeit, die dann verspätet alles richten soll.
Man prüfe aufmerksam, was Kindern angetan wird, die verschnallt auf dem Rücksitz eines SUV aufwachsen. Wie eingegleist sie sein werden, wenn die hauptsächlichen Wahrnehmungen die immer gleichen sind, ausgehend vom zweidimensionalen Screen des Computers oder Smartphone-Displays. Man sehe sich an, inwiefern Heranwachsende überhaupt aufmerksam sind und wie es um die Ausdauer dieser der Welt zugewandten Wachheit bestellt ist.
Die Politik ruft daraufhin sogleich: Frühkindliche Bildung! – Liegt die nicht in der Verantwortung der Erwachsenenwelt, Kindern eindrucksvolle Erlebnisse zu verschaffen, anstatt sie hermetisch und dauerüberwacht aufzuziehen? Draußen spielen, dort Abenteuer erleben, Geschichten erzählt bekommen, sich in Ruhe unterhalten, Tiere pflegen, ein Beet beackern, viel sehen, bauen und werkeln, singen, musizieren, Gedichte lernen. All dies Bewährte hätte unseren Eltern und Großeltern nicht als frühkindliche Bildung gegolten, sondern als Kindheit, wie sie nun mal ist, mit all ihren Genüssen und Gefahren.